Wohnen auf See
Was als Innovation für Luxus-Reisen gedacht war, bekommt durch den Klimawandel eine andere Dimension: Das Projekt HYPERcay zum Wohnen auf See – eine nachhaltige, autarke und schwimmende Hotelanlage aus beweglichen Modulen, die überall andocken kann.
Im Februar 2020 wurde in der Antarktis erstmals eine Temperatur von 20,75 Grad gemessen. Gefährliche Wärme, die nicht nur Forschern kalten Schweiß aus den Poren treibt: Laut einer in Earth System Dynamics veröffentlichten Studie könnte die Eisschmelze den Meeresspiegel bis zum Jahr 2100 um 58 Zentimeter steigen lassen. Küstenmetropolen wie Shanghai, Hamburg oder New York droht damit eine düstere Zukunft. Dies rückt eine eigentlich für Luxus-Hotellerie gedachte Idee in ein neues Licht: Architekt Gianluca Santosuossos HYPERcay-Projekt, das Wohnen auf See verlockend macht. Durch eine autarke, nachhaltige Anlage, die sich frei auf dem Wasser bewegt.
Schwimmendes „Rückgrat“ HYPERcay
Alles begann vor einigen Jahren mit Santosuossos MORPHotel-Entwurf. Der italienische Architekt wollte damit ein neues Luxushotel-Erlebnis designen. Das Projekt sollte quasi die Lücke zwischen Kreuzfahrtschiff und Fünf-Sterne-Strandresorts schließen. Vor dem Hintergrund aktueller Studien zu Klimawandel und Erderwärmung, machten sich Santosuosso und sein Team daran, die Idee weiterzuentwickeln. Das Ergebnis dieser zweiten Phase ist HYPERcay: Eine ganz auf Nachhaltigkeit ausgerichtete schwimmende Struktur, deren Aufbau ans Rückgrat eines Säugetiers erinnert.
Die einzelnen Module sind wie eine Reihe von „Wirbeln“ angeordnet. Zusammen bilden sie eine Art „Wirbelsäule“, die ihre Form ändern kann. HYPERcay passt sich mit Hilfe von Hydraulikkolben an Umwelt- und Klimabedingungen, aber auch ans jeweilige Umfeld an.
Wendig wie eine Seeschlange
So kann das futuristische Gebilde etwa auch durch enge Kanäle navigieren. Voll ausgestreckt ist sein „Körper“ rund einen Kilometer lang. Doch HYPERcay kann sich wie eine Schlange durch Engstellen winden und nahezu jeder Küstenform entsprechend ausrichten.
Im Gegensatz zu Kreuzfahrten, bei denen Passagiere an festen Punkten ein- und aussteigen müssen, könnten HYPERcay-Passagiere an jedem Punkt der sich ständig ändernden Route an oder von Bord gehen.
Suiten, die auch Yachten sind
Außerdem bieten viele der geplanten „Wohn-Kapseln“ – also jener Module, in denen sich die Suiten befinden – die Möglichkeit, die Umgebung zu erkunden: Sie lassen sich abkoppeln und wie kleine Yachten für Ausflüge im Umfeld des Hauptkörpers nützen.
HYPERcay ist als künstliches autarkes Ökosystem konzipiert, das mit erneuerbaren Energien betrieben wird. Solarpaneele und Wasseraufbereitungsanlagen sind Teil dieses Systems.
Autark und umweltschonend
Strom wird aus Sonnen- und Wellenkraft erzeugt, Trinkwasser aus Regen- und entsalztem Meerwasser gewonnen. In mittleren Bereich der „Wirbelsäule“ sind überdies Mangrovengärten vorgesehen, in denen Tiere und Pflanzen gedeihen.
Die zentralen Module bieten Platz für gemeinschaftliche Einrichtungen. In diesen festen „Wirbelkörpern“ sollen Geschäfte, Restaurants, Bars, Spa, Pool, Kino, Gärten und andere Annehmlichkeiten zur Verfügung stehen. Ein überdachter „linearer Park“ bildet die Mittelachse und dient als Verbindung zwischen den einzelnen Modulen.
Die Einheiten mit den Wohnmodulen befinden sich an beiden Enden des schwimmenden Komplexes. Sie bieten verschiedene Komfort-Varianten: Vom Glaszimmer auf Wasserspiegelhöhe bis zur abkoppelbaren Luxus-Suite.
Die „Wirbelkörper“ sind wie Schiffe konstruiert, mit im Schiffsbau verwendeten Metallen verstärkt und abgedichtet. Die Oberseiten der Module werden abwechselnd entweder verglast oder offen gestaltet. Zusammengehalten wird HYPERcay von einem mechanischen Gelenksystem, das jenem klassischer Eisenbahnwaggons ähnelt. Allerdings sorgen hier elektronische Kontrollelemente dafür, dass die Gelenke sich dehnen oder zusammenziehen können, damit HYPERcay seine Form problemlos nach Bedarf verändern kann.
Flexibles Wohnen auf See
HYPERcay soll über einen Hubschrauberlandeplatz und einen Pier verfügen, der sowohl als Anlegestelle für Schiffe, als auch als Verbindung zum Festland genützt werden kann. Das schwimmende Hotelgefüge muss keinem fixen Fahrplan folgen und hat weit weniger Tiefgang als große Ozeankreuzer. Wie eine mobile Insel kann es über die Meere treiben, aber auch in nahezu jedem beliebigen Hafen anlegen. Dort wird es für die Dauer seines Aufenthalts zur Erweiterung der jeweiligen Stadt.
Noch sind Visionär Gianluca Santosuosso und sein Team auf der Suche nach Partnern und Investoren für die Realisierung des Projekts. Dass die Idee in Zeiten bedrohlichen Klimawandels und steigender Meeresspiegel Potenzial hat, liegt auf der Hand. Umweltschonender als riesige Kreuzfahrtschiffe wäre HYPERcay wohl allemal. Und von nachhaltigem Leben auf dem Meer träumen inzwischen viele.
Ob sich aus dem „schwimmenden Rückgrat“ HYPERcay jedoch auch mehr als eine neue Hotel-Variante für besonders gutbetuchte Reisende entwickeln lässt, bleibt abzuwarten. Derzeit klingt derlei noch eher nach Science Fiction.
Allerdings: Vieles, was vor gar nicht allzu langer Zeit als Vision fantasiebegabter Roman-Autoren oder Erfinder galt, ist heute längst machbare Realität – von selbstfahrenden Autos und Drohnen-Taxis bis zu vertikalen Gärten, landwirtschaftlich genützten Wohnhausdächern oder rundum grünen urbanen Fassaden. Auch dass Innovationen oft erst nach Jahren ihren Weg vom Luxus zum erschwinglichen Angebot nehmen, ist bekannt. Durchaus möglich also, dass Gianluca Santosuossos Projekt HYPERcay einer ähnlichen Zukunft entgegensieht.
Text: Elisabeth Schneyder
Bilder: Gianluca Santosuosso