Von der Kohle zur Kunst
Die 1986 stillgelegte Zeche Zollverein, seit 2001 UNESCO-Welterbe, ist heute Industriedenkmal, Wirtschaftsstandort, Bildungscampus und Touristenattraktion in einem.
Strukturwandel ist das große Stichwort in dem von Bergbau geprägten „Ruhrpott“. Die industrielle Kohleförderung entlang der Ruhr war von 1820 an gut 160 Jahre lang eine Kraftquelle des Fortschritts; im Revier wurde Wirtschaftsgeschichte geschrieben. Und im Fall der Zeche Zollverein in Essen auch Architekturgeschichte. Dass gerade „auf Zollverein“, wie die Bergleute sagen, inzwischen die Rohstoffe der Zukunft gefördert werden, macht also doppelt Sinn.
Ein Ort der Superlative
„Schönste Zeche Deutschlands“, „Wunderwerk der Technik“, „Kathedrale der Industriekultur“ – so enthusiastisch wird das Werk der jungen Architekten Fritz Schupp (1896–1974) und Martin Kremmer (1894–1945) seit seiner Eröffnung immer wieder gefeiert. Die beiden im Industriebau erfahrenen Architekten stellen sich in der Tat einer besonderen Herausforderung. Von ihnen wird nicht weniger als die erste komplett durchrationalisierte Schachtanlage erwartet. Der von ihnen selbst schon im Jahr 1929 formulierte Anspruch geht sogar noch weiter: „Wir müssen erkennen, dass die Industrie … ein Symbol der Arbeit, ein Denkmal der Stadt ist, das jeder Bürger mit wenigstens ebenso großem Stolz dem Fremden zeigen soll, wie seine öffentlichen Gebäude.“
Und die Meister halten Wort. Am 1. Februar 1932 beginnt die Förderung auf Zollverein Schacht XII, der damals größten Steinkohleförderanlage der Welt. Schacht XII gilt unter Experten als technisches Meisterwerk. Mit einer täglichen Fördermenge von 12.000 Nettotonnen reiner Steinkohle wird hier die drei- bis vierfache Menge einer durchschnittlichen Ruhrgebietszeche erzielt.
Das ebenso ehrgeizige wie gigantische Projekt auf einem Areal von rund 100 Hektar wird von Anfang an auch als ästhetisches Meisterwerk der Moderne erkannt – und anerkannt. Weitreichende Aufmerksamkeit und echte Begeisterung weckt die Zeche Zollverein sogar noch über 30 Jahre nach ihrer offiziellen Stilllegung.
Der Bauhaus-Gedanke in XXL
Bis heute besticht die streng symmetrische Anordnung der 20 Einzelgebäude auf zwei Blickachsen. Getreu dem Bauhaus Credo „form follows function“ bilden sie gemeinsam die technischen Arbeits- und Produktionsabläufe der Kohleförderung ab. Dieses funktionale Prinzip hat die Zeche Zollverein mit den zukunftsweisenden Entwürfen der Bauhauszeit in den 1920er-Jahren gemeinsam.
Eine neusachliche Stahlfachwerk-Konstruktion kennzeichnet die Schachtanlage XII und auch die rund 20 Jahre später in der gleichen Formensprache errichteten Kokerei Zollverein. Diese überzeugende Verbindung von Industriedesign und Architektur macht das gesamte Ensemble schon zu Betriebszeiten zur „Attraktion“. Und diese erweist sich als ein erstaunlich nachhaltiger Wert.
Motor des Strukturwandels
Die Zeche Zollverein hat in den letzten Jahrzehnten weit jenseits von Kohle und Koks immer mehr wirtschaftliche Bedeutung erlangt. Eine Entwicklung, zu der vor allem ein ganzheitliches Konzept und die neuen architektonischen Akzentsetzungen beigetragen haben.
Die Kohlenwäsche von Schacht XII, 2006 von dem renommierten Architekturbüro Böll umgebaut, beherbergt das Besucherzentrum Ruhr und das Ruhrmuseum. Hier erfreuen sich inzwischen rund 260.000 Menschen jährlich an einzigartigen natur- und kulturhistorischen Exponaten. Auf dem Dach der Kohlenwäsche ist ein Pavillon für Veranstaltungen eingerichtet. Das ehemalige Kesselhaus hat kein geringerer als Sir Norman Foster für das Red-Dot-Design-Museum umgebaut. Und die ehemalige Kokerei beherbergt repräsentative Ausstellungsräume für Gegenwartskunst.
Auch das Gelände selbst lädt zur Besichtigung ein. Die authentisch erhaltenen Anlagen von Zeche und Kokerei sowie deren Umgebung sind heute als Denkmalpfad Zollverein erschlossen und werden jedes Jahr von rund 155.000 Besuchern erkundet. Dies sind nur einige Beispiele von vielen. Insgesamt sind bis 2018 durch die gekonnte „Bespielung“ als Landschaftspark, Museumsplatz, Freilichtbühne, Bildungsstätte und Eventlocation rund 1.500 neue Arbeitsplätze „auf Zollverein“ entstanden.
Immer ein energiegeladener Ort
Um mit einem ebenso praktischen wie zielgruppen-orientierten Beispiel zu beginnen: In der bislang ungenutzten zweigeschossigen denkmalgeschützten Halle 4 eröffnet im Herbst 2019 das Restaurant „The Mine“. Es ergänzt das ohnehin sehr gastfreundliche Angebot – und ist als Ort der Begegnung für Besucher, Anwohner und Beschäftigte „auf Zollverein“ gedacht.
Auch viele hochattraktive Veranstaltungen beweisen, dass auf Zollverein jenseits der Kohleförderung die Räder nicht still stehen. Um nur zwei High-Lights des Jahres 2019 zu nennen: Der Europäische KulturInvest- Kongress kommt Anfang November erstmals auf dem Zollverein Gelände zusammen. Über 100 namhafte Meinungsführer aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Medien zeigen in 12 Themenforen die neusten Trends im europäischen Kulturmarkt auf und entwickeln mit rund 750 Teilnehmern aus ganz Europa Zukunftsvisionen für die Entwicklung von Kulturmarken. Bezeichnenderweise trifft man sich an einem Ort, der inzwischen selbst zu einer international bekannten Kulturmarke geworden ist.
Das 100-jährige Bauhaus Jubiläum 2019 wird „auf Zollverein“ besonders gewürdigt. Ausstellungen, Installationen, Konzerte und Workshops der hoch geschätzten Folkwang Universität der Künste – aus dem nahen Essen – beleben und präsentieren den Bauhaus Gedanken multimedial und publikumswirksam. Das Festival ist eine Kooperation von Ruhr Museum, Museum Folkwang und der Klassik Stiftung Weimar. Es trägt den Titel „Try again, fail again, fail better – Impuls Bauhaus“. Ein sehr angemessenes Motto für diesen großartigen, sich selbst so unermüdlich neu erfindenden Ort. Und für dessen Zukunft. Glück auf!
Text: Tobias Sckaer; Bilder: Jochen Tack / Stiftung Zollverein, Frank Vinken / Stiftung Zollverein