Sanfter Riese in der Landschaft
Der japanische Shootingstar Junya Ishigami hat mit dem Zaishui Art Museum wieder einmal die Architektur aus den Angeln gehoben. Das wohl längste Museum der Welt orientiert sich in seinem Maßstab an der umgebenden Natur.
Zwischen dem „erbarmungslosen Diminutiv der Architektur“ und der monumentalen Landschaft Chinas eine gleichberechtigte Beziehung herzustellen, sei eine gewaltige Herausforderung. Dies schickte der japanische Architekt Junya Ishigami angesichts seines jüngsten Museumsbaus voraus. „Gebäude, die in China isoliert dastehen, haben etwas Einsames an sich, als wären sie ins endlose Terrain geworfen.“ Der Entwurf seines Büros für das Zaishui Art Museum sah daher keinen Bau vor, der sich imposant aus der Natur abhebt, sondern vielmehr eine kompromisslose Annäherung an die Landschaft. Der langgezogene Bau steht dem See und der Uferböschung näher als jeglicher Gebäudetypologie und sprengt damit die Grenzen unserer Vorstellungskraft.
Der Schlüssel liegt darin, die Architektur als ‚sanften Riesen‘ zu betrachten und nach einer völlig neuen Beziehung zwischen Natur und Mensch zu suchen.
Junya Ishigami + Associates, Architekturbüro
Über eine Länge von einem Kilometer windet sich das Museum organisch durch das Wasser und wird mitunter selbst zur Landschaft. „Der Schlüssel des Landschaftsproblems in China liegt darin, die Architektur als ‚sanften Riesen‘ in einer Umgebung zu betrachten und nach einer völlig neuen Beziehung zwischen Natur und Mensch zu suchen“, erläutert Ishigami.
Natur und Mensch auf Tuchfühlung
Das Museum bildet den Auftakt zu einem neuen Stadtentwicklungsgebiet in der ostchinesischen Millionenstadt Rizhao, Provinz Shandong. Es liegt auf einem künstlichen See und ist Ausstellungsraum, Besucherzentrum und Shopping Center in einem. Eine kulturelle Anlaufstelle und notwendige Infrastruktur für das neue Quartier, um für Interaktion unter den künftigen Bewohnerinnen und Bewohnern zu sorgen.
Insgesamt schafft der 2024 eröffnete Neubau eine Fläche von 20.000 Quadratmetern. Getragen wird er von 300 Stützen, die im zwei Meter tiefen Gewässer verankert sind. Die Flanken sind über die gesamte Länge verglast und sorgen sowohl von innen als auch von außen für Leichtigkeit und Transparenz. In der wärmeren Jahreszeit können sie geöffnet werden und heben so die Grenze zwischen Innen und Außen auf, während sie gleichzeitig eine natürliche Belüftung bieten.
Eine Öffnung an der Unterkante der Verglasung lässt das Wasser stellenweise nach innen fließen, wo der Boden künstliche Buchten ausbildet. Anstatt sich klar von der Natur abzugrenzen, geht die Architektur auf Tuchfühlung mit ihr.
Die Landschaft erstreckt sich in das Museum hinein und lasse so eine freundschaftliche Beziehung zur natürlichen Umwelt entstehen. „Dies zu ermöglichen ist das Ziel dieses Projektes“, heißt es vonseiten des Architekturbüros.
Spaziergang auf dem Wasser
Das Zaishui Art Museum lädt zu einem Spaziergang ein, der wie in der Natur von ganz unterschiedlichen Wahrnehmungen geprägt ist. Mal findet man sich in einem Ausstellungsraum mit durchwegs begehbarem Boden, mal verengt sich die Gehfläche und ist ringsum von Wasser umgeben. Einmal ist die Decke hoch und der Raum lichtdurchflutet, dann wiederum ist sie niedrig, sodass die Spiegelungen der Wasseroberfläche auf ihr tanzen.
Ein langes Stück Architektur, dessen Maßstab eins ist mit der weiten Landschaft, scheint wie ein Windstoß über den See zu gleiten.
Junya Ishigami + Associates, Architekturbüro
Mit all diesen gestalterischen Mitteln macht Junya Ishigami das Gebäude zu einem immersiven Erlebnis, wie es einem auch die Natur beschert. Es gibt keine Abkürzung, um schneller zu den einzelnen Bereichen des Gebäudes zu gelangen. Man kann es nur zu Fuß durchqueren, also in derselben Geschwindigkeit, als würde man am Ufer entlang spazieren.
Die Ausgangsfrage des Architekten „Wie können Umwelt und Architektur im chinesischen Kontext gleichberechtigt behandelt werden?“ beantwortet er mit einer Kubatur, die sich an den Dimensionen der Natur misst: „Ein langes Stück Architektur, dessen Maßstab eins ist mit der weiten Landschaft, scheint wie ein Windstoß über den See zu gleiten.“
Meister der Leere
Es ist nicht das erste Mal, dass Ishigami mit seiner Architektur die Grenzen des Vorstellbaren sprengt. Mit seiner Plaza für das Kanagawa Institute of Technology außerhalb von Tokio stellte der „Meister der Leere“ den öffentlichen Raum auf den Kopf. Der 51-Jährige gilt als Shootingstar der Architekturszene und wurde bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Für den japanischen Pavillon auf der Architekturbiennale in Venedig erhielt er 2008 den Goldenen Löwen.
Mit dem Zaishui Art Museum, das genauso lang ist wie der See, den es durchmisst, schuf er vermutlich das längste Museum der Welt. Aber anders als bei Sky- oder Landscrapern oft üblich geht es hier nicht um einen Rekord im Sinne von „schneller höher weiter“. Vielmehr bietet die Architektur eine Begegnung mit der Natur auf Augenhöhe und einen Ort der Entschleunigung in unserer hektischen Welt.
Text: Gertraud Gerst
Fotos: arch-exist, Junya Ishigami + Associates