Luxus in a Shell
Die wohnliche Muschel „YEZO Retreat“ besteht aus Holz, Stein, Wasser und Licht. Allein damit haucht sie dem Leben eines Einsiedlers in den Bergen von Hokkaido nachhaltigen Luxus ein.
Es sollte ein Heiligtum werden. Mit 360 Grad Rundblick, aber dennoch eingebettet in einen Berghang von Hokkaido. Außerdem: Alles supernachhaltig, bitteschön!
Diese Anfrage eines japanischen Privatiers machte die Architekten des in Hongkong ansässigen „Laboratory for Explorative Architecture and Design“ (LEAD) anfangs gelinge gesagt ratlos. Doch der Reiz, eine Luxusenklave unter dem Nachhaltigkeits-Aspekt zu entwickeln, überwog dann doch die Skepsis.
Wirklich ausgezeichnetes YEZO Retreat
Im Nachhinein kann man nur sagen: Zum Glück! Denn das schlussendlich entstandene Schmuckkästchen namens YEZO Retreat heimste inzwischen unter anderem den begehrten Golden Needle Design Award ein.
Ausgangpunkt für das ungewöhnliche Projekt war einerseits ein kleines Fleckchen Baugrund auf einem mittelsteilen Nordhang und andererseits ein nahezu uneingeschränkt großes Projektbudget. Also konnten die LEAD-Chefs Kristof Crolla und Julien Klisz ihrer Kreativität freien Lauf lassen, um den Rückzugsort möglichst in das gewünschte Heiligtum verwandeln zu können.
Anstatt sich aber irgendwelchen komplexen Planungsexperimenten hinzugeben, zogen die zwei Architekten ihren kreativen Prozess umgekehrt von der einfachen Seite auf. Sie entsannen sich uralter Zeltbauweisen!
Hängendes Holzdach
Die Logik dahinter: Um auf kleiner Fläche möglichst viel Lebensraum, Luxus aber eben auch Natürlichkeit unterzubringen, gilt es möglichst wenig Raum für den Bau von Mauern zu verschwenden. Also etablierten die findigen Planer eine ausgefeilte Dachschalenkonstruktion, die sich optisch und auch statisch wie der Baldachin eines Zelts verhält.
Die hölzerne Konstruktion „hängt“ förmlich an einem imposanten Betonschornstein, der somit auch das Zentralgestirn des YEZO Retreats bildet. Das Dach umfließt also zeltartig aber natürlich massiver als jeder Stoff die Feuerstelle des Hauses. Genau so wie die Zeltidee, ist auch dieser Aspekt als archaischer Link in der Menschheitsgeschichte zu verstehen.
Vor allem aber lag es den Architekten bei ihrem Konzept daran, „einen Ort für ruhige Reflexion und privaten Genuss in einer Umgebung, die von Holz, Stein, Wasser und Licht definiert wird, umgeben von natürlicher Schönheit“ zu etablieren, wie sie es formulieren. Allein deshalb habe ihrer Auffassung nach schon kein Weg an einem simplen Planungszugang vorbeigeführt. Megabudget hin oder her.
Hightech hinter den Kulissen
Das heißt aber freilich nicht, dass in irgendeiner Art und Weise an Geldmitteln gespart wurde. Vielmehr nutzte man die finanziellen Ressourcen, um die natürlichen zu schonen. Stichwort: Nachhaltigkeit! Die Architekten entwickelten einen eigenen Algorithmus, um das Holz der Leimholzbalken, aus denen das Dachkonstrukt besteht, ohne Verluste beschneiden zu können.
Sprich: Jedes Stück Holz wird erst vom Computer erfasst. Der berechnet die ideale Anordnung benötigter Balken, um das eine Stück so effizient wie möglich zuzuschneiden. Das gelingt so gut, dass nahezu kein Holzabfall übrigbleibt. Das Wenige, das dennoch nicht verarbeitet werden kann, ist als Brennholz für das Feuer des bereits beschriebenen Kamins ein gefundenes Fressen.
Wahrlich spannend geht es dann aber mit den gebogenen Balken weiter! Diese sind sorgfältig so geformt, dass sie durchgängig auf Zug beansprucht werden können. Das heißt, sie werden so verbaut, dass sie stets unter Spannung stehen. Dadurch entsteht sozusagen eine Art sich selbst tragende Konstruktion. Und das wiederum ermöglicht eine Materialreduktion der tragenden Bauelemente um 90 Prozent im Vergleich zu geraden Balken, wie man sie sonst bei klassischen Holzbauten verwendet.
Schiefer aus der Nachbarschaft
Das zweite Hauptmaterial dieses Baus ist – schwarzer Schiefer. Ein Gestein, das in der direkten Umgebung zu finden ist und hier eigens für das Projekt entnommen und für den Bau aufbereitet wird. Deshalb postulieren die Architekten stolz: „Der elegante, fließende Raum von YEZO Retreat folgt einem minimalistischen und doch ausdrucksstarken, leistungsorientierten Material-, und Konstruktionsansatz. Die Formen, aus denen er besteht, wurden algorithmisch für die Herstellung aus einer einzigen Form optimiert. So konnten die ökologischen Auswirkungen minimiert, die Herstellungskosten und die Lieferzeit reduziert werden.“
Bleibt nur noch die Sache mit dem Rundumblick des YEZO Retreat zu klären. Dazu nutzen die Planer einen kleinen Kniff: Über eine hinter dem zentralen Kamin versteckte Treppe gelangt man auf eine etwas erhöht gelegene Terrasse, die schlussendlich den 360-Grad-Blick über den Bergkamm hinweg ermöglicht.
Und spätestens wenn der gut betuchte Eremit und Auftraggeber hier emporklettert, wird er ob des imposanten Blicks ins Tal wohl wirklich das Gefühl haben, in einem Heiligtum zu wohnen. Ganz so, wie er es sich gewünscht hat.
Text: Johannes Stühlinger
Bilder: LEAD