Wohnkapsel macht die Wüste wohnlich
Das innovative Büro Aidia Studio hat eine Wohnkapsel entwickelt, die dem Skelett eines Seeigels gleicht. Mit Meerestieren hat „Oculus“ sonst aber nichts gemein: Das umweltfreundliche Bauwerk verändert seine Außenhaut je nach Sonnenstand und Tageszeit – und soll so Wüste wohnlich machen.
Das Team, das die Idee zur ungewöhnlichen Wohnkapsel hatte, ist selbst alles andere als „gewöhnlich“. Denn Aidia Studio ist eine Plattform für experimentelles Design in Architektur, Städtebau, Fotografie und mehr. In Büros in London und Mexico City wird unkonventionell nach Lösungen gesucht.
Wüstenleben, neu gedacht
Was sich die Aidia-Gründer Natalia Wrzask und Rolando Rodriguez Leal nun für Abu Dhabi einfallen ließen, klingt ziemlich genial: Die Wohnkapsel „Oculus“ agiert wie ein lebender Organismus, der sich vor Widrigkeiten schützt. Ihre Außenhaut passt sich Tageszeit und Klima an, womit auch in der Wüste angenehmes Wohnen machbar wird.
In der Rub al-Chali ein Hotel zu bauen, das erfolgreich Gäste locken soll, kann kein leichtes Unterfangen sein. Immerhin handelt es sich um die größte Sandwüste dieses Planeten. Fast menschenleer bedeckt sie das südliche Drittel der Arabischen Halbinsel. Mit Niederschlagsmengen von maximal 100 Millimetern gilt sie als hyperarid. Die Temperaturen der durch den Passat bedingten Wendekreiswüste können vom Gefrierpunkt in der Nacht bis zu tagsüber 60 Grad Celsius schwanken. Ein schöner, aber unwirtlicher Ort. Einer, an dem – von kleinen Nagern, Spinnen und wenigen Pflanzen abgesehen – kaum Leben herrscht. Mit „Oculus“ könnten hier künftig allerdings auch Menschen bequem residieren.
Ein „Seeigel“ im heissen Sand
Aidia Studio hat nämlich einen Hotelkomplex designt, der sich an Anatomie und Selbstschutz-Fähigkeiten jener Organismen orientiert, die in der Wüste überleben. Auf den ersten Blick sieht „Oculus“ aus wie das Skelett eines Seeigels: Eine Art Pod, der kugelig und verschlossen auf Kies- oder Sandboden ruht. Die Wohnkapsel ist jedoch alles andere als „tot“: Ändern sich Temperatur und Sonnenstand, wandelt sich auch ihre Oberfläche. Und zwar so, dass sich das Bauwerk selbst vor Hitze schützt, aber auch öffnet, wenn Tageszeit und Klima es erlauben.
Dass man in den Vereinigten Arabischen Emiraten sowohl das nötige Geld, als auch ein Faible für spektakuläre Projekte hat, ist bekannt. Man denke nur an Zaha Hadids ökologischen Neubau für den Müllentsorger Bee’ah oder das Luxus-Spa Al Faya Lodge in Dubais Wüste. Dass man zusehends auch Wert auf Nachhaltigkeit legt, könnte die Umsetzung des visionären Aidia Studio Projekts beflügeln. Das Konzept der Wohnkapsel „Oculus“ wirkt angesichts des Klimawandels jedenfalls höchst vielversprechend.
Wohnkapsel mit „selbstschützender“ Haut
Um alle erforderlichen Funktionen der Kabine zu erfüllen, wurde der „Oculus“ mit einem vielseitigen Beschattungssystem ausgestattet. Dieses zieht sich bei Bedarf zusammen und zurück. An der Krone faltet sich die „Haut“ der Wohnkapsel nach unten. Dann präsentiert sie sich als rahmenlose Acrylkuppel, die nachts freien Blick auf Milchstraße und Sternenhimmel eröffnet. Tagsüber zieht sich die Außenhaut seitlich zurück, öffnet die Frontseite des Pods und enthüllt die Türen zum Vorderdeck.
Die „lebendige“ Hülle der Wohnkapsel kann Privatsphäre schaffen, Hitze filtern und zugleich genug Licht ins Innere lassen. Vollständig „entfaltet“ wird die Haut des „Oculus“ zur Tarnung: Von der Umgebung kaum zu unterscheiden, kann sie auch von Tieren kaum mehr wahrgenommen werden.
Von Kakteen inspiriert
Die Grundidee hinter den radialen Beschattungsplatten, die die Wohnkapsel schmücken, zielt auf Nachhaltigkeit ab: Selbstbeschattung dient der Umweltverträglichkeit des Gebäudes. Inspiration für den „Oculus“ holte sich Aidia Studio direkt aus der Natur. Wüstenkakteenarten, die Hitze und Sonnenlicht mit dicken Außenhäuten, Falten und Lamellen trotzen, wurden zum Vorbild des Entwurfs.
Bei den Wohnkapseln sollen sechzig Gelenkschattenplatten nachvollziehen, was die Natur fürs Überleben der Kakteen geschaffen hat: Die Paneele bilden ein dichtes Gitter, das die Kabine schützt. Um sich an die Krümmung des Bauwerks anzupassen, verdichten sich die Platten zur Krone hin. Dadurch kann die starke vertikale Sonneneinstrahlung noch effizienter reflektiert werden.
Gut genützte Sonnenkraft
Zugleich will Aidia Studio das Überangebot an Sonnen-Power nützen. Das Konzept sieht vor, hochflexible Farbstoffsolarzellen (Grätzel-Zellen) einzubauen. Textilelektroden sollen ins Schattierungsgewebe eingenäht werden. Weil die – auch als „DSSC” bekannten – Zellen auch bei schwacher Beleuchtung Photovoltaik-Strom erzeugen, könnte so der Bedarf jeder der Wohnkapseln gedeckt werden, meinen die Entwickler. Außerdem soll „Oculus“ über einen Wassertank mit Filtrations- und Recyclingsystem für Grauwasser verfügen.
Im Inneren jedes „Oculus“ ist rustikaler Luxus vorgesehen. Eine geräumige Suite bietet beeindruckenden Blick ins Freie. Eine Lounge zum Entspannen, eine „Studier-Ecke“ und ein Teleskop gestalten den Wohnbereich. Der Eingang jedes Pods liegt an der Nordseite. Auf den Vorraum folgen eine Garderobe und ein großzügiges Badezimmer. Für Tageslicht sorgt hier ein Fenster in der Decke.
Schutz vor Sand und Sturm
Die Holzverkleidung an dieser Seite der Wohnkapsel garantiert Privatsphäre. Und sie erfüllt einen zweiten, wichtigen Zweck: Sie schützt vor den Sandstürmen. Denn diese fegen meist von Norden her über die Rub al-Chali Wüste.
Nachhaltig und elegant
Die Verwendung nachhaltiger Materialien ist dem Team von Aidia Studio wichtig. Holz und organische Stoffe in natürlichen Farbtönen fügen die „Oculus“-Einheiten zudem harmonisch in ihr Umfeld ein.
„Oculus“-Einheiten können aus 30 vorgefertigten Modulen errichtet werden. Die Wohnkapseln lassen sich leicht zu einer selbsttragenden Struktur zusammenbauen. Auch die Beschattungsplatten sollen vorgefertigt und vor Ort verschraubt werden. Die Häuschen werden durch dreißig Säulen geerdet. Diese sind je nach Boden flexibel verstellbar. Der rasche, einfache Aufbau soll die Umwelt nur minimal beeinträchtigen.
Als Standort des „Oculus“-Projekts in der Rub al-Chali Wüste wurde die Mitte einer Kiesebene gewählt. Eine hohe Düne schützt das 3.500 Quadratmeter große Gelände vor Wind und Sandstürmen. Die 25 Wohnkapseln sind so angeordnet, dass genug Abstand bleibt, um den Benutzern Privatsphäre zu sichern.
Die zentralen Gebäude der Anlage folgen einem ähnlich radialen Design, jedoch in größerem Maßstab. Dies dient nicht nur dem optischen Gesamtbild, sondern auch der Effizienz des Bauprozesses.
Der Haupttrakt ist in vier unabhängige Einheiten unterteilt, die jeweils eine andere Funktion haben: Rezeption und Gästetoiletten, Empfangshalle, Restaurant und Küche sowie Personalbereiche. Diese vier Kapseln sind durch Übergänge miteinander verbunden und werden von einem erhöhten Außendeck zusammengefasst.
Die Innenräume der Empfangslounge sind mit natürlichen Materialien ausgestattet, die den Fokus auf die Dünen dahinter lenken. An der Decke prangt eine leichte, von Nomadenzelten inspirierte Stoffinstallation. Das schöne Detail sorgt für Behaglichkeit und bessere Akustik.
Wohnkapseln mit Beduinen-Flair
Die 50 bis 80 Quadratmeter großen Wohnkapseln des Projekts sollen Komfort bieten, der Leben in der Wüste nicht nur möglich, sondern auch umweltfreundlich und erfreulich macht. Im von Bee Breeders organisierten, internationalen Wettberwerb „Mega Dunes Eco Lodges – Abu Dhabi“ holte sich Aidia Studio mit „Oculus“ den zweiten Platz. Ob das visionäre Konzept Bauherren begeistern und bald Wüstengegenden beleben wird, ist allerdings noch offen.
Text: Elisabeth Schneyder
Bilder: AIDIA STUDIO