Werkschau: Bulgariens stille Star-Architektin
Eine Ausstellung im Wiener Ringturm würdigt bis 27.September das Werk einer Schlüsselfigur der sozialistischen Architektur Bulgariens: Stefka Georgieva – Ausnahmekünstlerin und berühmteste bulgarische Architektin der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts.
Auch wenn das Land am Schwarzen Meer aufs Erste kaum für herausragende Architektur bekannt ist: Es lohnt sich, einen zweiten Blick auf bulgarische Baukunst zu werfen. Vor allem auf jene der 1960er bis 1980er Jahre. Denn in dieser Zeit drückte eine außergewöhnliche Frau vielen bedeutenden Bauten des Landes ihren Stempel auf: Architektin Stefka Georgieva, die als wichtigste Vertreterin ihres Faches im Bulgarien der Nachkriegsmoderne gilt.
Die Reihe „Architektur im Ringturm“ würdigt derzeit (bis 27.September 2019) die Arbeit der 2004 verstorbenen Architektin mit einer eindrucksvollen Werkschau. Ein dankenswertes Unterfangen. Denn wer im Internet nach ihrem faszinierenden Schaffen sucht, findet leider so gut wie nichts. Obwohl Georgievas Arbeit in Architektenkreisen hochgeschätzt wird.
Große Werke, eigenwillige Arbeitsweise
Die aktuelle Ausstellung porträtiert anhand realisierter Bauten das Lebenswerk der vielfach preisgekrönten Bulgarin, die hinter dem Eisernen Vorhang zum Star ihres Faches wurde. „Wir nannten sie die Lehrerin“, erinnert sich Aneta Bulant-Kamenova, die die Ausstellung gemeinsam mit Adolph Stiller kuratiert. Und die Zeitzeugin definiert, was Stefka Georgieva zur herausragenden Persönlichkeit machte: „Es war nicht nur interessant, was sie gemacht hat, sondern auch wie“.
Georgieva habe ihr Leben lang allein gearbeitet und alles selbst entschieden, erinnert sich die Werkschau-Kuratorin: „Sie war sehr gut in der Konstruktion und hatte einen extrem starken Einfluss auf junge Architekten“. Mitunter auch durch überraschende Methoden, wie Bulant-Kamenova schildert. So habe Stefka Georgieva etwa ihre technischen Zeichner zum Lernen zu Steinmetz und Tischler geschickt. Denn die Architektin legte Wert darauf, dass ihre Teammitglieder auf Baustellen optimal mit Handwerkern kommunizieren können.
Staats-Architektin mit eigenem Stil
Stefka Georgieva studierte 1942 bis 1947 bei Architekt Hans Döllgast an der Technischen Hochschule München. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zwang sie zur Rückkehr nach Bulgarien. Gleich nach ihrem Abschluss am damals neu gegründeten Staatspolytechnikum in Sofia stieg sie 1948 beim staatlichen Architektur und Stadtplanungsinstitut „Glavprojekt“ ein. Rasch wurde sie in die gewaltigen Bauprojekte des sozialistischen Bulgarien und die rapide Modernisierung des Landes eingebunden. Und bald zeigte sich, dass die Architektin anders ans Werk ging, als zu ihrer Zeit in ihrem Land üblich.
Bauwerke für die kommunistische Elite
Mit Erfolg: In Anerkennung ihres Talentes wurde sie 1973 zur Glavprojekt-Gruppenleiterin ernannt, 1981 zur Abteilungsleiterin bei Sofprojekt. Damit war Georgieva in führender Position der beiden wichtigsten staatlichen Planungsbüros des kommunistisch geprägten Balkanstaates angekommen. Als offizielle Staatsarchitektin realisierte sie auch repräsentative Gebäude wie die Staatsresidenz Bojana (Haus 2), die Villa „Magnolia“ in Evksinograd oder private Einfamilienhäuser für die bulgarische Elite der kommunistischen Partei.
Der Weg zur Spitze führte über in den späten 1940er Jahren entworfene Kindergärten und Vorschulen. In den 1950er und 1960er Jahren folgten Hotels für Bulgariens neue und international gefeierte Meeresbadeorte „Druzhba“ und „Goldstrand“. Und Georgieva war von Beginn an Mitglied des Planungsteams der Urlaubsanlage „Sonnenstrand“ unter der Leitung des Architekten Nikola Nikolov. Gemeinsam mit ihm erhielt die damals erst 37-Jährige 1960 den damals höchst renommierten Dimitrovska-Preis.
Brutalismus, „westlich“, aber landestypisch
Obwohl die Architektin dem kommunistischen Regime diente, konnte sie ihren eigenen, markanten Stil entwickeln und umsetzen: „pro westlich“, mit bewusst formalisierten Elementen landestypischer bulgarischer Architektur. Georgievas Werke wurden als künstlerische Interpretation der Tradition diskutiert und oft als sinnloser, importierter Formalismus abgetan. Trotzdem zählen sie noch heute zu den stärksten Beispielen des architektonischen Brutalismus des sozialistischen Bulgarien.
Stefka Georgieva war sehr gut in der Konstruktion und hatte einen extrem starken Einfluss auf junge Architekten
Aneta Bulant-Kamenova, Architektin, Zeitzeugin und Werkschau-Kuratorin
„Sie ist das Gesicht des bulgarischen Brutalismus und war eine Schlüsselfigur in der sozialistischen Architektur“, urteilt etwa Architekturhistorikerin Aneta Vasileva. Stefka Georgievas eindrucksvollste Bauwerke entstanden samt und sonders zwischen 1960 und 1975:
1960 war dies die Villa 3, Staatsresidenz Evksinograd, die durch spätere umfangreiche Umbauten zur Villa „Magnolia“ wurde. Danach die 1968 errichtete Tennishalle „Sofia“. 1973 dann der aus drei Wohnhäusern bestehende Komplex mit Appartements fürs ausländische Diplomatische Korps in Sofia. Später die Hotelgruppe „Tscherno more/Fregata“ im Badeort Sonnenstrand (1972) und 1974 die Staatsresidenz Bojana, Haus 2, in Sofia.
Kompromisslos und experimentierfreudig
Allesamt Bauwerke, die Experten heute als strukturelle, räumliche und stilistische Experimente bezeichnen. Projekte, die – an der Grenze zum architektonischen Brutalismus – Georgievas unbedingte Ablehnung architektonischer Kompromisse deutlich machen. Dass sie dank ihrer Arbeit sowohl innerhalb, als auch außerhalb des Ostblocks reisen durfte, mag den Stil der Architektin wohl beeinflusst haben. Ebenso, wie ihre Ehe mit Levtscho Manuilov, einem der besten bulgarischen Bauingenieure ihrer Zeit. Er soll Stefka Georgieva als Berater zur Seite gestanden und sie bei ihren gewagtesten Konstruktionen beflügelt haben.
Als gesichert und sichtbar dürfen in jedem Fall die Leitprinzipien gelten, nach denen Georgieva ihre markantesten Bauten plante: Modulares Design, basierend auf Rastern und wiederkehrenden Elementen. Logische, ästhetische Konstruktion als Basis für logische Formfindung und zurückhaltende Dekoration. Tektonische Interpretationen landschaftsspezifischer Bauweise, viel Sichtbeton und „ehrliche“ Materialien.
Architektin zwischen egalitär und elitär
Kurz gesagt: Georgieva hat es geschafft, eine neue Ästhetik einzuführen und sie mit zurückhaltender professioneller Ethik zu kombinieren. Ohne seelenlose Kopien und simplen Ersatz. Sie spielte das Spiel des bulgarischen Brutalismus, schuf sowohl elitäre als auch egalitäre Bauten und diente dem Staat mit Respekt. Sie machte sich fremde Einflüsse zu Eigen und zähmte diese mit Regionalismus. Von stalinistischen Kindergärten und modernistischen Hotels bis zu mächtigen, brutalistischen Bauten: Georgievas Baukunst war versatil, zweideutig, funktional, monumental und großartig.
Bauwerke, die Zeit und Wandel trotzen
Die Residenz „Bojana“ zum Beispiel wird bis heute genutzt. Bau 1, die ehemalige Residenz des Staatsrates der Volksrepublik Bulgarien, beherbergt das nationale Historische Museum. Das zweite Gebäude dient der bulgarischen Regierung als Wohnkomplex mit Hotelfunktion, Wohn- und Nutzgebäuden. Die Residenz liegt in einem eindrucksvollen Park mit eingeschränktem Zugang. Als hochrepräsentatives Bauwerk des sozialistischen Regimes war sie dazu gedacht, höchste Lebensstandards und beste bauliche Errungenschaften zu demonstrieren.
Der Komplex der Residenz ist nach den ungeschriebenen Regeln des totalitären Luxus gebaut – in exzellenter Lage. Das konstruktive Gebäudekonzept ist kompromisslos. Alle verwendeten Materialien, Ausführungen und Details sind von größtmöglicher Qualität. Die Residenz Bojana war Symbol der Macht des Staates und deshalb auch mit typisch „bulgarischem Charakter“ ausgestattet. Dieser wurde jedoch subtil mit den Mitteln spätmodernistischer und brutalistischer Sprache erzielt.
Spätmoderne mit einer Prise Tradition
Georgieva entwarf ihren Bau auf einem quadratischen Raster als u-förmigen Komplex mit ausgeprägter Symmetrie und einem intimen Innenhof. Dies erinnert diskret an den Archetyp des Klostergartens und des Dorfmarktes, sowie an andere nachhaltige Beispiele bulgarischer Stadtplanung des 19. Jahrhunderts.
Kombiniert wird dieses Konzept mit einem Schrägdach mit ausgeprägten Auskragungen, heraustretenden Geschossen und „traditionellen“ Materialien wie weißem Putz, Holz und Steinverkleidungen. Die tragenden Teile sind teilweise sichtbar. Ihr freiliegender Beton wird jedoch durch Schichten luxuriöser Materialien wie Kalkstein, Marmor, grünem Kupfer und braunem Aluminium gemildert.
Die Residenz Bojana ist zwar sicher kein egalitäres Gebäude. Sie symbolisiert Machtunterschiede, ist exklusiv, selektiv, luxuriös mit eingeschränktem Zugang. Trotzdem spiegelt sie brutalistische Ästhetik – so, wie es Georgievas Heimatland, Zeit und Stil verlangten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gelangte Bulgarien in die sowjetische Einfluss-Sphäre und wurde 1948 offiziell zur sozialistischen Volksrepublik. Rapide Modernisierung und Industrialisierung folgten. Die modernistische Entwicklung wurde von der Einführung der ästhetischen Doktrin des Sozialistischen Realismus 1948 unterbrochen. Doch nach dem politischen Tauwetter im Frühjahr 1956 herrschte die Sprache des Nachkriegsmodernismus vor.
Geförderter Brutalismus spezieller Prägung
Der innerbulgarische Diskurs behandelt sozialistische Architektur (1944–1989) im Allgemeinen als relativ geschlossenes System, das – abgesehen von Moskau als politischem Zentrum – von äußeren Einflüssen abgeschottet bleibt. Dennoch gab es auch äußere Einflüsse aus den „kapitalistischen“ Quellen Westeuropa, Amerika und Asien. Diese erreichten Bulgarien oft spät und wurden fast nie in ihrer reinen Form umgesetzt, waren jedoch präsent.
Der Brutalismus wurde von der totalitären Regierung gefördert. Formell war es eine linke, sich als progressiv sozialistisch verstehende Regierung. Doch während Brutalismus weltweit unter anderem als architektonisches Symbol eines Nachkriegswohlfahrtsstaates entstand und egalitäre Bauvorhaben sozialer Institutionen symbolisierte, kam es in Bulgarien anders: Hier wurde er für wichtige, hauptsächlich öffentliche Gebäude „verwendet“. Als repräsentatives Werkzeug. Kopiert wurde nicht die Ethik, sondern vor allem die berüchtigte Ästhetik des Brutalismus – für hochrepräsentative Staatsgebäude oder noble Wohnsiedlungen der Eliten.
„Einheimisches“ als Architektur-Zauberformel
Das „Einheimische“ blieb allerdings wichtig. Denn seit ihrer Selbstdefinition im 19. Jahrhundert lebte die bulgarische „nationale“ Kultur in einem konstanten Konflikt. Zerrissen zwischen ihren so genannten „Wurzeln“ und der universellen Kultur, mit der sie sich ständig vergleicht. Traten in kulturellen Belangen Zweifel auf, wurde stets formelhaft wiederholt, es gelte, „das Einheimische zu finden“ – auch innerhalb der bulgarischen sozialistischen Kultur und im Speziellen der Architektur.
Vor diesem Hintergrund entstanden Stefka Georgievas faszinierende Werke. Baukunst im Staatsdienst, die dennoch Neues etabliert und mit Erfolg Experimente wagt. Damit zählt die Architektin zweifellos zu den unumstrittenen visuellen Helden des bulgarischen Nachkriegsmodernismus.
Neu geschätzt und doch bedroht
Bedauerlich, dass viele ihrer Arbeiten derzeit gefährdet sind. Denn keines davon steht unter Denkmalschutz. So bleibt die Hoffnung, dass die aktuell steigende Wertschätzung architektonischer Leistungen aus Georgievas Ära schneller um sich greift, als deren Abbruch vorangetrieben wird. Und der Genuss, das Schaffen der bemerkenswerten Architektin bei der aktuellen Werkschau im Wiener Ringturm zu bestaunen.
Text: Elisabeth Schneyder
Fotos: Architektur im Ringturm, Ivan Pastoukhov, Archiv Stefka Georgieva