Der fließende Raum in Perfektion
Die Villa Tugendhat im tschechischen Brno, von Mies van der Rohe entworfen und 1930 fertiggestellt, war zu seiner Zeit das teuerste Privathaus der Welt. Heute ist das Bauhaus-Juwel UNESCO-Weltkulturerbe und ein Spiegel der wechselhaften Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Wer sich heute dem Gebäude Černopolní 45 im tschechischen Brno von der Straße her nähert, nimmt zunächst einen schlichten, wohlproportionierten Bungalow wahr. Das zu seiner Zeit teuerste Privathaus der Welt empfängt Besucher eher dezent. Bei den weiteren Schritten erkennt man verwundert, „nur“ im Eingangsbereich zu sein. Zwischen einem Aufbau für Flur, Schlafräume und Bäder und der Doppelgarage fällt eine großzügige Terrasse ins Auge. Und all dies ist lediglich die Ouvertüre einer atemberaubenden Villa mit 1.250 m2 Nutzfläche.
Eine markante, halb gewendelte Treppe, deren Grundform sich schon in einer teilweise gebogenen, durchscheinenden Außenwand andeutet, führt in das untenliegende Hauptgeschoss – und in eine andere Welt. Auf rund 240 m2 liefert Mies van der Rohe dort ein Paradebeispiel seiner Anschauung vom „fließenden Raum“, lange bevor das Wort „Loft“ überhaupt erfunden war. Die Decke des riesigen Geschosses schwebt auf verchromten Stahlstützen mit kreuzförmigem Profil. Diese, damals für ein Wohnhaus revolutionäre Tragstruktur machte eine völlig freie Aufteilung möglich. Lediglich einige feste und flexible Einbauten und Möbel gliedern die luftige, lichtdurchflutete Fläche in Eingangs-, Arbeits-, Ess- und Sitzbereiche. Dazu gehören auch zwei spektakulär eingesetzte, nicht tragende Wände aus kostbaren Materialien. Eine langgezogene aus marokkanischem Onyxmarmor und eine gebogene aus fernöstlichem Palisanderholz.
Haustechnik wie ein Ozeandampfer
Auf der untersten Gebäudeebene befinden sich großzügige und perfekt angeordnete Technik-, Lager- und Hauswirtschaftsräume. Allein die enormen Dimensionen und die Übersichtlichkeit der von hier aus gesteuerten Heizungs- und Klimaanlagen versetzen Technikbegeisterte noch heute in Erstaunen.
Unikate auch bei allen Möbeln
Alle Innenräume der Villa Tugendhat sind mit eigens entworfenen Möbeln und Belägen – unter anderem von Mies van der Rohe und der Designerin Lilly Reich ausgestattet. Für das Schlafzimmer, beispielsweise, entwarfen die beiden einen modernen Freischwinger, den bis heute produzierten und inzwischen weltbekannten Brno Stuhl.
Van der Rohes Barcelona Chair, in kräftigem Grün gehalten, setzt Akzente im großen Wohnraum. Charakteristisch für das Interieur insgesamt ist die Kombination schlichter, schmuckloser Formen mit kostbaren, seinerzeit völlig neuartigen Materialien und Böden. Außergewöhnliche technische Pionierstücke waren auch die elektrisch voll versenkbaren Fenster mit Blick in den parkähnlichen Garten und über ganz Brno hinweg.
Eine wechselvolle Geschichte
Nur acht Jahre lang konnte die Familie Tugendhat ihre prächtige Villa genießen. Die Textilfabrikanten Fritz und Grete Tugendhat und ihre fünf Kinder mussten 1938 vor den Nazis in die Schweiz flüchten; später emigrierten sie nach Venezuela. Ihr Haus, das Schätzungen zufolge etwa fünf Millionen Vorkriegskronen gekostet hatte, also dem Wert von zehn stattlichen Mietshäusern entsprach, fiel danach in viele fremde Hände. Zuerst nahm die Villa Tugendhat durch deutsche Luftangriffe starken Schaden, dann durch den Vandalismus sowjetischer Soldaten und schließlich durch die ungelenken Umnutzungen und ignoranten Vernachlässigungen in der Nachkriegszeit. Einer hastigen Renovierung in den 1980er Jahren fielen nochmals einige bis dahin noch erhaltene Elemente zum Opfer. Nach der Auflösung des Ostblocks ging die Villa in den Besitz der Stadt Brno über. 2001 wurde sie zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt und schließlich ab 2010 zwei Jahre lang fach- und kunstgerecht saniert.
Der alte neue Glanz
Gleich drei Architekturbüros wurden mit der Restaurierung nach modernen denkmalpflegerischen Gesichtspunkten betraut. Unter den kritischen Augen eines internationalen Expertenteams entstand die Villa Tugendhat wieder neu – und in alter Form. Eine bezeichnende Fügung dabei: Die Leitung des Teams wurde Ivo Hammer, Kunsthistoriker und Schwiegersohn des Bauherrn Fritz Tugendhat, anvertraut.
Während der Instandsetzung konnten einige verloren geglaubte Bauelemente wieder an ihren ursprünglichen Einbauort zurückgebracht werden. Eine von der Gestapo geraubte Ebenholzwand wurde als die echte Trennwand des Speisezimmers identifiziert und wieder eingebaut. Eine Original-Badewanne fand sich in einem der Nachbarhäuser. Wo immer möglich, blieb die alte Bausubstanz erhalten. Einige nachträgliche Einbauten wurden rückgängig gemacht. Die charakteristische Onyxwand war noch an Ort und Stelle und musste lediglich gereinigt werden. Ein unbekannter Kenner und Bewahrer hatte sie durch provisorische Mauern vor allen Wirren und Begehrlichkeiten geschützt.
Ein Besuch verlangt Geduld
Die Villa Tugendhat ist nicht nur ein Bauhaus-Denkmal ersten Ranges, sondern auch ein Spiegel unserer wechselhaften Geschichte von 1930 bis heute. Beides ist gleichermaßen spannend, beides verdient Aufmerksamkeit – und vor allem Zeit. Die exzellenten Führungen sind allerdings meist auf Monate hinaus ausgebucht. Wer sich frühzeitig anmeldet, wird allerdings mit einem architektonisch und zeitgeschichtlich mitreißenden Erlebnis belohnt.
Text: Tobais Sckaer, Bilder: David Zidlicky