Tausend Jahre Lebenszyklus
Unterhalb der alten Stabkirche Urnes in Norwegen soll das dazugehörige World Heritage Center entstehen. Was die beiden Bauten gemeinsam haben, ist der nachhaltige Baustoff Holz. Was sie trennt, sind tausend Jahre Geschichte.
Die detailreichen Schnitzereien am Nordportal der Kirche sind ein gut erhaltenes Beispiel der traditionellen Kunst der Wikinger. Sie zeigen den Weltenbaum Yggdrasil, der nach der nordischen Mythologie die Schöpfung verkörpert. Gleichzeitig weist die Kirche Bauformen der Romanik auf und zeugt von der Christianisierung Skandinaviens. Die Stabkirche Urnes am Ostufer des Lusterfjords geht auf das Jahr 1100 zurück und gilt als älteste Stabkirche der Welt.
Dieses historische Gotteshaus ist nicht nur ein bedeutendes kulturelles Erbe, es ist auch ein Beweis dafür, wie langlebig Bauwerke aus Holz sind. Denn diese Stabkirche, die mittlerweile zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt, ist zu 100 Prozent aus Holz gebaut. Heute erlebt der Holzbau aufgrund seiner positiven CO₂-Bilanz ein großes Revival. Dass das geplante Urnes World Heritage Center aus demselben Baustoff sein soll wie die rund 1000 Jahre alte Kirche, lag deshalb auf der Hand.
Vertikal versus horizontal
Einen spektakulären Bau, der die alte Stabkirche womöglich in den Schatten stellt, wollte man auf keinen Fall haben. Vielmehr sollte es eine Architektur sein, die sich dem historischen Juwel und der umgebenden Landschaft unterordnet. Eine Vorgabe, die das siegreiche Konzept mit dem Titel „Urneskilen“ erfüllt. Aber verstecken muss sich der Entwurf trotzdem nicht.
Das Design-Team von Christian Brink, Lipinski Architects und Tobias Laukenmann konnte sich im Wettbewerb gegen 124 Konkurrenten durchsetzen. Ihr Vorschlag sieht eine langgezogene, keilförmige Kubatur vor, wie ein sanfter Schnitt in die Topografie. Diese horizontale Ausrichtung der Architektur steht in Kontrast zur vertikalen Form und Konstruktion der Stabkirche. Die einzelnen Holzbauelemente sind beim Stabbau – im Gegensatz zum Blockbau – senkrecht angeordnet.
Holz aus der Umgebung
Fast wirkt es, als würde das neue Besucherzentrum die weiter oberhalb stehende Kirche auf einer Art Tablett präsentieren. Eine starke visuelle Verbindung bilden die Holzfassaden beider Gebäude. Die Architekten setzen sowohl bei der Konstruktionsweise als auch bei der Fassadengestaltung auf den nachwachsenden Baustoff.
Durch den Einsatz von lokalen Ressourcen wird das Gebäude einen sehr niedrigen CO₂-Fußabdruck haben.
Christian Brink, Lipinski Architects, Tobias Laukenmann, Design-Team
Das Holz für den neuen Kulturbau stammt aus den Wäldern der unmittelbaren Umgebung, und auch die anderen Werkstoffe kommen aus der Region. „Durch den Einsatz von lokalen Ressourcen wird das Gebäude einen sehr niedrigen CO₂-Fußabdruck haben“, heißt es in einer Erklärung des Design-Teams.
Sichtbar und unsichtbar zugleich
Besuchern, die vom Hafen kommen, öffnet sich der neue Kulturbau mit seiner nach Süden hin ansteigenden Glasfassade. Ein dreieckiger Einschnitt an der Front markiert den Eingangsbereich und schafft gleichzeitig eine Überdachung für den Außenbereich des Restaurants. Ganz anders präsentiert sich das Haus von oben.
Blickt man von der alten Stabkirche zum Hafen hinunter, so ist das neue World Heritage Center nicht als Gebäude wahrnehmbar. Durch das begrünte Dach legt sich der Hang wie eine Decke über den Bau und zeigt lediglich den zur Spitze geformten Gehweg. Er macht das Dach für die Besucher zugänglich und bietet eine großzügige Aussicht über die Fjordlandschaft.
Zurück in die Zukunft
In der Eingangshalle darunter erwartet den Besucher eine warme und einladende Atmosphäre. Hier besteht alles aus Holz – vom Boden, und der Decke bis hin zur Rezeption und den Regalen im Besuchershop.
Die Urnes Stabkirche ist ein Beispiel für die Bauweise der Vergangenheit, Urneskilen ist ein Modell für das Bauen der Zukunft. Wenn die CO₂-neutrale Bauweise Schule macht und die Menschheit die Klimakrise überwindet, könnte auch dem neuen Holzbau ein Lebenszyklus von 1000 Jahren bevorstehen.
Text: Gertraud Gert
Fotos: Wikimedia Commons, Aesthetica Studio and Aleksandre and Ghuladze