„Urbane Lebensqualität für alle“
Was brauchen Städte um zukunftsfit, nachhaltig und lebenswert zu sein oder zu werden? Architektin und MVRDV Gründungspartnerin Nathalie de Vries gilt als Top-Expertin auf diesem Gebiet. Im Interview am Rande des UIA-Kongresses verriet sie uns, was sie für unverzichtbar hält.
Die beunruhigenden Fakten sind hinlänglich bekannt: Mehr als 50 Prozent der Weltbevölkerung leben in Städten. Eine Zahl, die stetig steigt und und zunehmenden Wohnbedarf verursacht. Zugleich verbrauchen Städte bereits jetzt rund 75 Prozent der gesamten Energie und produzieren etwa 80 Prozent der gesamten CO2-Belastung. Immer dichter verbaute Ballungsräume, Hitzeinseln, Mangel an erholsamem Freiraum, kaum noch leistbare City-Wohnungen und triste Vorstadt-Blocks liefern Zündstoff für Konflikte. Dies und mehr schmälert und bedroht urbane Lebensqualität. Kurzum: Städte sind mit Problemen konfrontiert, die dringend kluger Lösungen harren.
Ideen für Morgen höchst gefragt
Grund genug für die Organisatoren des UIA World Congress of Architecture 2023, der jüngst in Kopenhagen über die Bühne ging, Experten zu Keynotes, Diskurs und Ideenfindung zu laden. Darunter auch die international renommierte Architektin Nathalie de Vries. Wir trafen die Co-Gründerin des global erfolgreichen Büros MVRDV auch abseits der großen Bühne. Und fragten sie, was Städte nachhaltig, zukunftsfit und lebenswert gestalten kann – und sollte.
Wie werden – oder besser: sollten – Städte der Zukunft aussehen?
Vielfältig, hoffe ich. Und vor allem grün und lebendig. Wir sehen wieder viel mehr Aufmerksamkeit für lokale Lösungen. Klimaanpassung, zum Beispiel. Und mehr Individualität. Ich denke, es sollte allen Freude machen, in der Stadt zu leben.
Das Konzept „Stadt“ an sich ist ja sehr nachhaltig. Man kann vieles miteinander teilen, Leute treffen, in ein Café gehen. Und man kann die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen oder vielleicht auch zu Fuß gehen, um dorthin zu gelangen, wohin man muss.
All dies schafft unbestritten urbane Lebensqualität. Doch Ballungszentren sind mit immer größeren Problemen konfrontiert…
Um diesen zu begegnen, müssen wir die Zukunft, die vor uns liegt, genau betrachten. Eine Zukunft, in der die Temperaturen vielleicht noch weiter steigen, wir Probleme mit Wasser und Ressourcenverknappung haben. Wir müssen also sehr erfinderisch sein. Mancherorts werden wir vielleicht sogar sehr lokale Lösungen finden, die diese Städte dann von anderen abheben.
Das Konzept Stadt an sich ist ja sehr nachhaltig, weil man so vieles miteinander teilen kann.
Nathalie de Vries, Architektin und MVRDV-Gründungsmitglied
Sind begrünte Hochhäuser Teil dieser Lösung?
Manchmal, ja. Vor allem, wenn wir verhindern wollen, dass sich unsere Städte weiter ausbreiten. Ihr kennt dieses Problem der Zersiedlung ja in Österreich. Verdichtung ist mitunter eine gute Antwort darauf. Nicht unbedingt immer in Form von Türmen, sondern vielleicht mit mehr Nachbarschaft und nah erreichbarem Angebot. Zugleich bedarf es mehr öffentlicher Räume. Diese können sich auf dem Dach von Gebäuden oder auch in deren Innerem befinden.
Was wir herausfinden müssen, ist, wie wir möglichst viele Einrichtungen innerhalb einer Stadt gemeinsam nutzen können.
MVRDV designt unzählige Projekte rund um den Globus. Viele davon mit Fokus auf urbane Lebensqualität. Welche davon fallen Ihnen spontan als beispielhafte Favoriten ein?
Jetzt, in diesem Moment? Also wir haben zum Beispiel aktuelle Projekte in den USA, die erschwingliches Wohnen sowie öffentliche Bereiche, gemeinschaftliche Annehmlichkeiten und Einrichtungen schaffen.
Es ist sehr schön, mit vielen anderen Architekten zusammenzuarbeiten. So können wir gemeinsam wirklich kleine Stadtteile schaffen, statt nur individuelle Projekte oder ikonische Gebäude zu bauen.
Nathalie de Vries
Welche sind das konkret?
Eines ist Mission Rock in San Francisco. Und ein weiteres, zu dem Veröffentlichungen aber noch ausstehen, ist in Boston. Und bei beiden arbeiten wir mit vielen verschiedenen Architekten zusammen. Zum Beispiel mit Jeanne Gang und Henning Larsen.
Welche Vorteile bringt das für jeweilige Projekt?
Es bedeutet, dass wir nicht nur einzelne Projekte oder einzigartige, ikonische Gebäude bauen. Wir haben zusammengearbeitet, damit unsere Gebäude miteinander verbunden sind. Damit wir gemeinsam Straßen und Einrichtungen planen und mehr. Und so können wir tatsächlich neue, kleine Stadtteile schaffen. Es ist großartig, mit diesen Leuten, diesen großartigen Büros zusammenzuarbeiten.
Es ist wichtig, Mixed-Use Projekte zu schaffen, in denen Menschen gut wohnen, leben, arbeiten und Erholung finden können.
Architektin Nathalie de Vries
Kooperationen sind also empfehlenswert in Ihrer Branche?
Oh, ja! Wir hatten wirklich gemeinsame Workshops und viele Gespräche. Haben besprochen, wie wir auf die Gebäude des jeweils anderen reagieren können. Und diese sind sehr gemischt genutzt. Meiner Meinung nach ist es sehr wichtig, gemischt genutzte Gebiete zu schaffen. Orte, an denen Menschen gut wohnen, arbeiten und ihre Freizeit genießen können.
Im Sinne der legendären Idee der „15 Minuten Stadt“, in der sich alles in Reichweite befindet?
Genau. Außerdem ist etwa das Projekt Mission Rock dazu konzipiert, neuen Wohnraum und öffentliche Einrichtungen an einem Ort schaffen, der früher nur ein riesiger Parkplatz war. Das ist fantastisch! Und es hilft der Stadt, weil in San Francisco enormer Wohnungsmangel herrscht.
San Francisco ist allerdings auch eine extrem teure Stadt…
Stimmt. Aber ein großer Teil der neuen Wohnungen wird erschwinglich sein. Denn das Projekt liegt auf dem Parkplatz der San Francisco Giants, des Baseballteams – und sie wollen wirklich sicherstellen, dass alle Zuschauer und Fans ihres Teams dort wohnen können.
Und inwiefern steht das Projekt in Boston im Zeichen urbaner Lebensqualität?
Wir arbeiten dort in einem Areal, das jetzt Teil des Universitätscampus ist. Und es geht vor allem auch darum, den Campus und die Fakultäten mit der umliegenden Nachbarschaft und Gemeinde zu verbinden. Dieses Projekt ist so angelegt, dass jeder Bürger dort auch ein Geschäft eröffnen, dort leben, die öffentlichen Angebote, Straßen und Grünbereiche nützen kann.
Es geht darum, Zonen, die früher nur Parkplatz oder reines Universitätsgelände waren, in die Stadt einzubinden. Das ist sehr wichtig. Denn eine Stadt sollte stets eine Einheit sein – nicht segregiert.
Jeder sollte das Gefühl haben, Teil der Stadt zu sein. Dass all die Einrichtungen und guten Dinge des Lebens, die die Stadt zu bieten hat, für jeden zugänglich und verfügbar sind.
Architektin und MVRDV-Gründungspartnerin Nathalie de Vries
Riesige Betonwohnblock-Siedlungen an der Peripherie werden immer öfter zu Krisenzonen. Was könnte solche Probleme lösen?
Man müsste definitiv in öffentliche Plätze und Einrichtungen investieren. Diese Bereiche sollten auch zu Orten werden, an denen man gern lebt.
Da war vor vielen Jahren ein Projekt, an dem wir auch gearbeitet haben: Es hieß „Grand Paris“ und beruhte auf der Idee, dass die Peripherie als Grenze verschwinden würde. Und ich denke, dieses Projekt sollte nach wie vor vorangetrieben werden. Damit wirklich jeder das Gefühl hat, Teil der Stadt zu sein. Dass all die Einrichtungen, die guten Dinge des Lebens, die die Stadt zu bieten hat, für jeden zugänglich und verfügbar sind.
Nachhaltigkeit ist auch ein Aspekt, der urbane Lebensqualität fördert. Welche Rolle spielt die Wahl des Materials für MVRDV bei der Konzeption neuer Projekte?
Eine gewichtige. Wir arbeiten gerade an einem Konzept namens „The Carbon Calculator“. Das bedeutet, dass wir schon an die Effizienz denken, wenn wir mit dem Design beginnen. Weil – beispielsweise – mehr als 60 Prozent des Kohlenstoffs in Gebäuden in der Struktur stecken. Es ist also extrem wichtig, effizientere und leichtere Bauweisen zu überlegen und zu finden.
Wir denken auch viel mehr über Modularität und die Art der Materialien nach, die wir verwenden. Es ist uns sehr wichtig, dass all dies Teil unseres Designprozesses ist. Von Beginn an.
Findet derlei auch die Zustimmung potenzieller Auftraggeber?
Ich bin sehr froh, dass wir jetzt Kunden haben, die uns nach diesen Dingen fragen. Die dann sagen, ja, macht dieses Projekt für uns. Und ich denke, wir sollten wirklich anfangen, den Bau von Gebäuden abzulehnen, die nicht diesen Grundsätzen entsprechen.
Wir brauchen Gebäude, die auch leicht sind, die wieder umgestaltet werden können. Solche, die die Menschen vor Ort und in der Umgebung mögen und lieben.
Architektin Nathalie de Vries
Ein international so gefragtes Büro wie MVRDV hätte kaum ein Problem damit, Kunden abzuweisen. Viele andere allerdings …
Natürlich ist da auch Unterstützung gefragt. Es hat immer großen Einfluss, wenn die Regierung strengere Regeln festlegt. Zum Beispiel: ,So lauten die Bauvorschriften. Und wir wollen, dass so gebaut wird‘. Das ist es, worauf auch alle Kunden hören.
Wir brauchen hier die Unterstützung unserer Regierungen. Aber wir müssen auch Beweise liefern und experimentieren können. Die ersten Pilotprojekte machen, um zu sehen, was wirklich funktioniert. Also brauchen wir auch mutige Klienten. Solche, die sagen, ja, wir werden in dieses Experiment investieren, es in Angriff nehmen und testen. Da sind auch immer wieder kleine Änderungen und Wiederholungen im Spiel. Aber jemand muss beginnen. Damit andere Vertrauen gewinnen und sehen, dass sie es auch tun können.
Ist es inzwischen leichter, solche Kunden zu finden? Man hört mitunter, dass etwa Nachhaltigkeitszertifikate eher angestrebt werden, weil sich Projekte damit später leichter vermarkten lassen…
Natürlich kann man das auch zynisch betrachten. Aber, andererseits: Whatever works! Was auch immer funktioniert, sollten wir nützen! Ein Zertifikat als solches steht natürlich auch für eine bestimmte Philosophie und Sichtweise der Dinge.
Ich denke, wir müssen sogar über Etiketten hinaus denken. In vielerlei Hinsicht. Nicht alles kann gemessen werden. Wir brauchen Gebäude, die auch leicht sind, die wieder umgestaltet werden können. Solche, die die Menschen vor Ort und in der Umgebung mögen und lieben ….
Es gibt auch abseits von Zertifizierungen viele Faktoren, die Gebäude nachhaltig machen!
Vertrauen Sie den derzeit gängigen Nachhaltigkeitszertifikaten?
Also, … sie sind bis zu einem gewissen Grad durchaus attraktiv. Es ist kompliziert, weil diese Labels – zu Recht – wirklich von Beginn eines Projektes an auf Entscheidungsfindung abzielen. Die erste Frage, die sich jeder stellen muss, ist: Sollen wir bauen oder sollen wir etwas Neues schaffen? Damit fängt alles an. Viele der Zertifikate umfassen auch die Art und Weise, wie ein Gebäude errichtet, betrieben und instand gehalten wird, …
Ich denke also, dass die Bauwirtschaft insgesamt in der Verantwortung steht. Wir sind definitiv ein Teil davon. Aber Sie sehen auch, dass alle daran mitarbeiten müssen. Man kann es nicht alleine schaffen.
Was ist nötig, um etwa urbane Lebensqualität zu erhalten und zu sichern?
Wir sollten auf keinen Fall alle abwarten, sondern Kooperationen finden und aktiv werden. Alle Gebäude müssen auf eine sehr ganzheitliche Weise betrachtet werden.
Text: Elisabeth Schneyder
Bilder: Barbra Verbij, MVRDV, Atchain, Pixelflakes, Tishman Speyer, Elisabeth Schneyder