Überirdisch unterirdisch
Oben Spielplatz und City-Treff, unten bedeutende Kultureinrichtung: Helsinkis Kunstmuseum Amos Rex ist ein außergewöhnliches Bauwerk und holt sich einen Architekturpreis nach dem anderen.
Ein Kunstmuseum, auf dessen Dach Kinder klettern, rennen und über Kuppeln radeln – wo gibt’s denn so etwas? In Helsinki! Direkt im Zentrum der finnischen Hauptstadt. Auf dem Platz des beliebten Lasipalatsi („Glaspalast“) am Boulevard Mannerheimintie, genauer gesagt. Denn hier befindet sich das neue Amos Rex. Und dieses ist zweifellos ein Bauwerk der besonderen Art: Oben Spielplatz und quirliger City-Treff, unten angesehene Kulturinstitution. Die „überirdische“ Dachfassade des 2018 eröffneten Museums bildet die Straßenebene, während die Ausstellungsräume unter der Erde liegen.
Instagram-Star & Award-Winner
Dass das vom finnischen Top-Studio JKMM entworfene Gebäude flugs zum Instagram-Hotspot werden würde, lag auf der Hand. Und es ist kein Wunder, dass das Amos Rex sich bereits mehrerer Auszeichnungen rühmen darf. Erst jüngst erhielt es den begehrten LCD Award als „Neue Kulturdestination des Jahres – Europa“. Also jenen Preis, der als „Oscar“ für Museen gilt. Obendrein ehrte IIDA das Projekt nicht nur als einen der sechs Sieger der „47. Interior Design Competition“, sondern auch als „Best of Competition“.
Auch einem AIT-Award 2020 für „Best in Interior and Architecture“ (Kategorie: öffentliche Gebäude / Kultur) dürfte nichts im Wege stehen. Seinen Platz als Finalist im Rennen um den Preis, der am 30. September verliehen werden wird, hat das Amos Rex bereits erobert. Und wer es sieht, kann leicht nachvollziehen, warum. Denn die BBC lobte den Neubau nicht umsonst schon 2018 als eines der innovativsten neuen Architekturwerke des Jahres.
Ein Dach zu ebener Erde
Die unterschiedlich großen Dachkuppeln, die auf Straßenniveau aus dem Boden quellen, sehen aus wie die Kulisse eines Science Fiction Films. Jede wird von einem runden Fenster gekrönt, das Tageslicht in die darunter liegenden Museumsräume lenkt.
Mit der Idee, Ausstellungsflächen unterirdisch anzulegen, räumten die Architekten eine Hürde aus dem Weg: Wegen bestehender Denkmalschutzvorgaben hätte an Ort und Stelle nämlich kein neues Gebäude errichtet werden können, das die Fläche des öffentlichen Platzes verringert.
Durch die großen Oberlichter kann man vom Platz aus nach unten in die Museumshallen blicken – und vice versa. Damit ist die 6.230 Quadratmeter umfassende Kultureinrichtung ins Stadtleben eingebunden, obwohl sie quasi unter dessen Füßen ruht.
Zugang mit Unterhaltungsangebot
Der Eingang zum Amos Rex befindet sich im Lasipalatsi, einem ikonischen, 1936 im funktionalistischen Stil errichteten Komplex mit hohen Fensterreihen. Das Gebäude beherbergt Restaurants, Geschäfte und das sorgsam modernisierte Bio Rex-Kino, in dem allerlei Kulturveranstaltungen stattfinden.
Hotspot für Spiel & Stadtkultur
„Die Integration eines der architektonisch wegweisenden Gebäude Finnlands – des Lasipalatsi – ins Amos Rex-Projekt war eine bewegende Erfahrung“, schildert JKMM-Gründungspartner Asmo Jaaksi.
Durch das Hinzufügen einer neuen Ebene zu dieser besonderen Location habe sich das Architektenteam mit Vergangenheit und Gegenwart verbunden gefühlt: „Wir möchten, dass dies als nahtlose Erweiterung und aufregender Museumsraum empfunden wird. Dass der neue Lasipalatsi-Platz mit seinen sanft geschwungenen Deckenkuppeln als willkommene Ergänzung der städtischen Kultur angenommen wird. Ein Ort, den alle Stadtbewohner als ihren eigenen empfinden“.
Den Weg dazu hat sich JKMM nicht leicht gemacht. Gemeinsam mit den Stadtplanern tüftelten die Architekten am finalen Konzept. Es galt, den Lasipalatsi-Platz als wichtigen öffentlichen Raum zu erhalten. Helsinkis Bürger sollten die einzige sichtbare Neubauhöhe des Amos Rex, nämlich dessen Dachlandschaft, genießen können.
Gebäudedach als Parklandschaft
Die Lösung fand man in Form der skulpturalen Dachfenster, die eine neue Topographie ergeben. Ihre sanft rollenden Formen basieren auf der Idee eines Stadtparks, der zu Spiel und Kommunikation einlädt.
Für die Besucher der unterirdischen Galerieräume sind die großzügigen Oberlichter aus Stahlrahmenbeton zugleich Lichtquelle, Designelement und Fenster zum überirdischen Bereich. Den Architekten war es wichtig, im Inneren des Amos Rex ein Gefühl für Ort und Stadtteil zu vermitteln, obwohl das Museum sechs Meter unter der Erde liegt.
Innovative Lösung
Für die Umsetzung des faszinierenden Lichtkonzepts holte JKMM Innenarchitekt Petri Vainio vom finnischen Studio Doctor Design ins Boot. Die Dachkonstruktion entstand in Kooperation mit Spezialisten von Sweco Structures. Die ungewöhnlichen Oberlichter eröffneten zugleich eine architektonische Möglichkeit, die dem Museum sehr zugute kommt.
Durch das innovative Konzept konnte eine säulenfreie, 2.200 Quadratmeter große Ausstellungshalle gestaltet werden. Und zwar eine, die sich je nach Ausstellung flexibel verändern lässt.
Vielseitiges Wunderwerk
Die Größe, die Deckenkuppeln und die historischen Assoziationen des Saals sorgen für beeindruckende Szenarien. Subtil von oben beleuchtet, wähnt man sich in der Halle des Amos Rex mitunter fast unter dem Hauptschiff einer Kathedrale.
Im Inneren des Museums führen schräge Treppen von der Ausstellungshalle zum Foyer des Lasipalatsi. Damit wurde eine harmonische Verbindung zwischen neuen und bestehenden Gebäuden geschaffen.
Das Amos Rex und „sein“ Kino
Das JKMM-Team hat auch im alten Teil Hand angelegt: Das 550 Plätze umfassende Kino-Auditorium wurde zusammen mit dem Rest des denkmalgeschützten Lasipalatsi-Pavillons restauriert. Hier werden sowohl Arthouse- als auch Mainstream-Filme gezeigt. Betrieben wird das Kino von der Kulturwerkstatt „Korjaamo“, die in Kooperation mit Amos Rex auch Filmfestivals und Events veranstaltet.
Zusammen mit dem Lasipalatsi-Pavillon erstreckt sich der Museumskomplex über etwas mehr als 13.000 Quadratmeter. Helsinkis Bürger und Gäste aus aller Welt haben den Platz und das Amos Rex sehr rasch ins Herz geschlossen.
Bewahrung historischer Substanz
Für die Stadt wurde mit dem aufregenden Projekt eine Sorge aus dem Weg geräumt. Denn der Lasipalatsi-Block, der ursprünglich als temporärer Bau für die (wegen des Weltkriegs erst 1952 abgehaltenen) Olympischen Sommerspiele 1940 geplant war, hatte sich zur finanziellen Last entwickelt.
In den 1980er Jahren drohte der Komplex endgültig zu verfallen. Dann erhielt er jedoch den Status eines modernistischen Meisterwerks.
Von Amos Anderson zu Amos Rex
Die Kooperation der Stadt mit der Stiftung des privaten, zuvor seit 1965 als Amos Anderson Kunstmuseum bekannten Amos Rex kam zur rechten Zeit: Die im Haus des Verlegers und Kunstmäzens Amos Anderson (1878-1961) untergebrachte Sammlung platzte aus allen Nähten. Im über 100 Jahre alten Bau ließ sich die Pracht finnischer Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts nicht mehr würdig präsentieren. Die zentrale Lage des Lasipalatsi und sein Umfeld schienen jedoch perfekt für ein neues Museumsgebäude.
Immerhin befindet sich das spektakuläre, moderne Amos Rex in bester Nachbarschaft. Wenige Schritte entfernt liegt mit dem „Kiasma“ Finnlands führendes Museum zeitgenössischer Kunst. Auch das Museum für bildende Kunst, das neoklassische Ateneum, ist nicht weit. Ebenso, wie der 1938 errichtete Tennispalatsi mit Helsinkis Kunstmuseum (HAM) und Kunsthalle.
Mit dem Amos Rex ist nicht nur neues Leben rund um und in den Lasipalatsi eingekehrt. Das überirdisch-unterirdische Projekt ist zugleich ein neues Aushängeschild, das dem Können finnischer Architekten international Applaus beschert. Eines, das sich getrost mit anderen Aufsehen erregenden Museumsbauten messen kann.
Verspielter Weg zur Kunst
Was die Gunst der Anrainer und die Zahl sehr junger Fans betrifft, hat das Amos Rex wohl seine Nase vorn. Denn einen Spielplatz auf dem Dach haben schließlich nicht einmal Norwegens „gedrehtes“ Kistefos Museum oder Chinas „schwebendes“ Liyang. Und vom kreativen Spiel zum Kunstinteresse ist es oft nicht weit. Vor allem dann, wenn beides derart nah beisammen liegt.
Text: Elisabeth Schneyder
Bilder: Aaro Artto, Hannu Rytky, Mika Huisman, Tuomas Uusheimo, JKMM