Werden Abrissfirmen oft als Profiteuere der schädlichen Take-Make-Waste-Praxis gesehen, so zeigt ein Unternehmen aus Dänemark, was sich mit Abbruchmaterialien alles bauen lässt – zum Beispiel ein authentisches neues Headquarter.

Vor der begrünten Hallenwand ragt eine Hütte in den Raum. Das Holz an ihrer Fassade weist unterschiedliche Gebrauchsspuren auf. Kleine und größere Fenster wechseln einander ab und bilden zusammen eine orchestrierte Patchworkfassade. Etwas weiter finden sich Ziegel aus dem ehemaligen Staatsgefängnis Vridsløselille, und in das Obergeschoss führt eine Treppe aus einem alten Schulgebäude. Das neue Headquarter der dänischen Abrissfirma Tscherning ist als Haus-im-Haus-Konzept in ihrer einstigen Lagerhalle in Hedehusene entstanden, einer Stadt an der Bahnstrecke zwischen Kopenhagen und Roskilde. Aber ob man die Räumlichkeiten tatsächlich als neu bezeichnen kann, darüber lässt sich streiten. Die Materialien für Tscherninghuset stammen nämlich von Abbruchbaustellen, der neuen Ressourcenquelle des zirkulären Zeitalters. 

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Das neue Headquarter der Abbruchfirma Tscherning ist aus den Bestandteilen abgerissener Häuser gebaut.

Schürfen im Bestand

Die Bauherrschaft wünschte sich einen neuen Firmensitz, der die Identität des familiengeführten Unternehmens widerspiegelt. Außerdem sollte es ein Ort sein, der persönlich und einladend ist. Mit der Aufgabe betraute man die Architektinnen und Architekten des Kopenhagener Büros GXN, der grünen Tochterfirma von 3XN. Gemeinsam mit den Auftraggebern entschied man sich für einen recht radikalen Ansatz: Die neue Zentrale sollte gänzlich aus dem entstehen, was das Unternehmen zuvor abgerissen hatte. Statt neue Ressourcen zu verbauen und damit auch neue Emissionen zu erzeugen, schürften sie also im mannigfaltigen Materiallager des ausgedienten Bestands.

Jedes eingebrachte Stück hat eine eigene Geschichte, die auf eine Abbruchbaustelle, ein bestimmtes Gebäude oder einen speziellen Prozess verweist.

My Lunsjö, Spezialist für Verhaltensdesign bei GXN

Beim Wiederverwenden von gebrauchten Bauteilen und Materialien gehe es aber nicht allein um das Einsparen von CO2-Emissionen, wie das Büro in seiner Projektbeschreibung betont. Es gehe auch darum, Identität zu schaffen und Menschen an einen Ort zu binden. „Jedes eingebrachte Stück hat eine eigene Geschichte, die auf eine Abbruchbaustelle, ein bestimmtes Gebäude oder einen speziellen Prozess verweist“, erklärt My Lunsjö, Spezialistin für Verhaltensdesign bei GXN.

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Durch die ressourcenschonende Bauweise wurde Primärenergie und CO2 eingespart.
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Das neue Headquarter aus wiederverwendeten Materialien und Bauteilen schafft Identität.

Die Ästhetik des zirkulären Designs

Designer starten ihre Arbeit meist damit, dass sie Parameter für die Gestaltung festlegen und daraufhin ein Designkonzept erstellen, das bis ins letzte Detail durchdacht ist. Sie starten mehr oder weniger von einem weißen Blatt Papier, während das Bauen nach der Kreislaufwirtschaft eine andere Herangehensweise erfordert. „Das Wiederverwerten von Materialien kehrt die Relation zwischen Ästhetik und Materialbeschaffung um“, so Lunsjö. „Zirkuläres Design geht über rein stilistische Entscheidungen hinaus.“

Es entsteht eine Sprache, die materielle Vielfalt und Authentizität einer modernistischen Vorstellung von Homogenität und Regelmäßigkeit vorzieht.

My Lunsjö, Spezialist für Verhaltensdesign bei GXN

Da zu Beginn des Prozesses nicht feststeht, welche Materialien und Bauteile für das Projekt gefunden werden, benötigt man einerseits einen Hands-on-Zugang, um die Ressourcen logistisch zu managen. Andererseits ist eine übergeordnete Designstrategie gefragt, um dem Sammelsurium an unterschiedlichen Baustoffen einen stilistischen Rahmen zu geben. Insgesamt ändere der oft unvorhersehbare Prozess auch unser Ästhetikbewusstsein. 

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Beim zirkulären Bauprozess entsteht materielle Vielfalt.

„Es entsteht eine Sprache, die materielle Vielfalt und Authentizität einer modernistischen Vorstellung von Homogenität und Regelmäßigkeit vorzieht“, wie es Lunsjö formuliert. Denn es sei gerade der Mangel an formeller Strenge mit den überraschenden Ecken und Nischen und den vielen möglichen Wegen durch das Gebäude, die Tscherninghuset Persönlichkeit und eine gemütliche Atmosphäre verleihen.

Eine steile Lernkurve

Das Ergebnis dieses eigentümlichen Designprozesses ist ein Haus, das aus den Bestandteilen unzähliger anderer Häuser entstanden ist. Eine Patchwork-Architektur mit einer Gesamtnutzfläche von rund 1.700 Quadratmetern, die zu fast 90 Prozent aus recycelten oder recycelfähigen Materialien besteht.

Die vielbeschworene Vision des kreislauffähigen Bauens haben Auftraggeber und Architekten damit um ein reales Vorzeigeprojekt erweitert, das eine Alternative zum Take-Make-Waste-Prinzip der herkömmlichen Baupraxis aufzeigt.

Die begleitende Publikation zum zirkulären Bauprojekt

Inspiration für die Bauwende

In Begleitung zu diesem zirkulären Bauprojekt ist ein Buch entstanden, das die Entstehungsgeschichte von Tscherninghuset in Text und Bild nachzeichnet. Damit liefert man jede Menge Inspiration und praktische Erfahrungswerte, die der Branche helfen können, die Bauwende voranzutreiben.

„Die Arbeit an diesem Projekt war von der Idee bis zur Umsetzung eine steile Lernkurve“, erklärt GXN-Gesellschafter Lunsjö. „Wenn wir in diese Richtung weiterdenken, dann könnte das der Schlüssel dafür sein, die CO2-Neutralität in naher Zukunft zu erreichen.“

Text: Gertraud Gerst
Fotos: Claus Peuckert

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