The Tulip London: Wahrzeichen oder Wahnwitz?
Nur wenn Architektur provoziert, ist sie auch gut. Diesem Grundsatz folgen Foster + Partners seit jeher. Und ihr für London geplanter Wolkenkratzer „The Tulip“ stellt das eindrucksvoll unter Beweis: Experten und Menschen laufen Sturm.
Wer die Londoner kennt, der weiß, dass der Humor dieser Stadtpflanzen streckenweise als „eigenwillig“ bezeichnet werden kann. Schwarz ist er. Trocken. Und meist auch respektlos. Sarkasmus kombiniert mit Selbstironie gehören da genauso dazu, wie jede Menge Doppelbödigkeit.
Wo Wolkenkratzer anders heißen
Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass die viele Milliarden teuren Wolkenkratzer der Londoner Skyline nicht bloß mit Ehrfurcht betrachtet werden, sondern mit einer gehörigen Portion britischem Humor.
Das beweisen allein schon die Spitznamen, mit denen die Briten diese Bauten versehen haben. Da hätten wir etwa den „Cheesegrater“ (Käsereibe), mit dem man eigentlich das 225 Meter hohe Leadenhall Building meint. Es gibt das „Walkie Talkie“, das die Telefonform des 160 Meter hohen Büroturms 20 Fenchurch Street eindrucksvoll beim Namen nennt. Aber auch „Die Gurke“ ist inzwischen in aller Munde und meint den 180 Meter hohen Finanztower mit dem offiziellen Namen 30 St Mary Axe.
Genau neben diesem soll nun das nächste Stück Baugeschichte hochgezogen werden: Ein 305 Meter hoher Aussichtsturm, entwickelt vom für provokante und nachhaltige Architektur berühmten Studio „Foster + Partners“. Eine Kuppel aus superstarkem Glas, die auf einem langen Stiel aus Beton alle anderen Wolkenkratzer Londons überragen soll.
Wie ein Riesenrad. Nur besser.
Ganz oben sollen acht Stockwerke mit Aussichtsplattformen etabliert werden, die über Brücken und gläserne Rutschen miteinander verbunden sind. Außerdem sieht das Konzept Bars, Restaurants und sogar ein „Fliegendes Klassenzimmer“ vor. Soll heißen: Im Herzen des spektakulären Glasturms sollen in luftigen Höhen Ausbildungsstätten integriert werden. In diesen soll alljährlich 20.000 Schüler staatlicher Schulen Wissen über die Stadt und ihre Historie nähergebracht werden.
Besonders spektakulär: An drei Seiten dieses gigantischen Glaskunstwerks sind jeweils gläserner Kugeln vorgesehen, die sich auf elliptischen Bahnen am Gebäude entlangbewegen. Vor allem aber können darin Besucher Platz nehmen und so die Stadt aus gänzlich neuen Blickwinkeln betrachten. Wie eine Art Riesenrad. Nur viel besser.
Message Control für Architekten
Jedenfalls aber haben sich „Foster + Partners“ gedacht: Bevor die Londoner unserem Superbau irgendeinen gemeinen oder gar sarkastischen Namen verpassen, machen wir das gleich selbst. Stichwort: Message Control. Und so hat das kurz vor Baubeginn befindliche Bauwerk schon vor der Grundsteinlegung seinen Namen: „The Tulip“, die Tulpe.
„The Tulip steht im Geiste Londons. Es unterstreicht das Image einer progressiven, vorausdenkenden Stadt“, zeigt sich Norman Foster, Gründer und Chef des zuständigen Architekturbüros stolz auf den eigenen Wurf. Als neue „kulturelle und soziale Sehenswürdigkeit“ der Stadt hatte er das Projekt vom ersten Tag an präsentiert. Als Wolkenkratzer, der das Potential zum Wahrzeichen hat.
The Tulip braucht Unterstützer
Freilich ist auch Jacob J. Safra, Milliardär und Finanzier von „The Tulip“ begeistert: „Die Eleganz der Tulpe und ihre weiche Strenge komplementieren den Kultstatus der benachbarten ,Gurke’“, kommentierte er kürzlich.
Jetzt ist sogar der neue Vorsitzende von London Architecture, Peter Murray ausgerückt, um „The Tulip“ sozusagen den Stängel zu stärken. Er postulierte: „The Tulip von Foster + Partners wird dringend notwendig sein, um der City of London dabei zu helfen, sich von der Coronavirus-Pandemie zu erholen!“ Außerdem wäre sie ein wichtiges Zeichen, um den Finanzmarkt nach dem Brexit zu beflügeln.
All diese gewichtigen Unterstützungserklärungen kommen freilich nicht von ungefähr. Denn je näher der Baustart rückt – ein paar behördliche Hürden sind noch zu nehmen –, desto mehr gerät „The Tulip“ unter Beschuss.
The Tulip im Kreuzfeuer der Kritik
Das fängt bei besorgen Bürgern wie Manuel Kaiser an. Der Mann sagt: „London hat mehr als genug Restaurants, Bars und Aussichtsplattformen. Außerdem werden tausende Tonnen Stahl und Beton im Pfeiler des Turms verschwendet, die aber nur eine minimale Nutzfläche an der Spitze generieren. The Tulip verschwendet nur Platz!“
Gar ein neues Empire State Building?
Diese Aussage wäre freilich nicht sonderlich problematisch, hätte Manuel Kaiser sie nicht in Form eines ausführlich begründeten Widerspruchs bei der Planungsbehörde eingereicht.
Wesentlich problematischer für die „The Tulip“-Befürworter ist allerdings der Vergleich, den Murray Gunn, Leiter Research bei Elliott Wave International, einem Experten für technische Finanzmarktanalyse, zieht. Er weist auf einen Zusammenhang hin, der über das generell skeptische Urteil der Bevölkerung zu großen Bauprojekten hinausgeht.
The Tulip von Foster + Partners wird dringend notwendig sein, um der City of London dabei zu helfen, sich von der Coronavirus-Pandemie zu erholen!
Peter Murray, Vorsitzender von London Architecture
Der Bau „könnte ein geeignetes Nachwort für Londons Rolle an den Finanzmärkten sein“, sagt er und meint damit, dass solche imposante Projekte häufig das Ende einer positiven Markt-Stimmung einläuten würden. Als Beispiel verweist Gunn auf das Empire State Building in New York.
Geplant in den „goldenen 20er-Jahren“, aber erst während der folgenden Depression fertiggestellt. Ein vergleichbares Schicksal könnte auch The Tulip drohen, warnt er. Schließlich sei die künftige Rolle Londons als Finanzzentrum wegen des Brexits zumindest unklar …
The Tulip als Flughafen-Problem?
Zu allem Überdruss haben sich nun auch Experten des Londoner Flughafens zu Wort gemeldet. Sie fürchten, dass die spektakulären beweglichen Glaskugeln die Radarsysteme verwirren könnten. Nun muss das jedenfalls auch noch vorab geprüft werden, ehe man mit dem Bau loslegen kann (Baustart war für November 2020 geplant).
Doch nachdem die „City of London“ bereits ihr Go gegeben hat, stehen die Chancen auf eine Fertigstellung bis frühestens 2025 gut. Und solange sich andere Architektur-Größen wie Peter Cook positiv zu dem Bau äußern, darf man durchaus zuversichtlich sein, bald in einer der gläsernen Gondeln über London zu schweben. Sein – typisch britischer – Kommentar: „The Tulip sollte noch viel verstörender sein. Das ist alles noch immer viel zu brav.“
The Tulip wird wohl zum Phallus
Jedenfalls aber ist „The Tulip“ in London derzeit das Gesprächsthema schlechthin. Und so dürfen sich „Foster + Partners“ auch nicht wundern, dass ihr ausgeklügelter Plan, dem Bau einen selbstgewählten Namen zu geben, bereits heute gescheitert ist. Denn in London spricht man ob der Form von „The Tulip“ längst nur vom „Wattestäbchen“. Oder „Pilz“. Vor allem aber vom – „Penis“,
Text: Johannes Stühlinger
Bilder: Foster + Partners; DBOX