Brutalismus revamped
Das New Yorker Architekturbüro Raad Studio verpasst einem brutalistischen Monumentalbau ein avantgardistisches Makeover. Das Konzept The Strand beweist: Es geht auch ohne Abrissbirne.
Ist das Kunst oder kann das weg? An dieser Frage scheiden sich die Geister, wenn es um architektonische Relikte aus der Ära des Brutalismus geht. Die einen kämpfen erbittert um deren Erhalt, die anderen wollen Platz für Neues schaffen. Jahrzehnte der Verwitterung lassen die Betonriesen oft düster aussehen. Ein Grund, warum den einstigen Prachtbauten aus béton brut der Untergang eher nahegelegt wird als ein glanzvoller Neustart. Doch eine Konzeptstudie für ein ehemaliges Bürogebäude in London zeigt, wie eine kreative Neugestaltung aussehen kann.
Rettet die Betonmonster!
Im Zentrum von London, unweit des Theaterviertels Covent Garden, steht eine Landmark des Brutalismus. Arundel Great Court an der Geschäftsstraße Strand wurde nach dem Entwurf des Architekten Sir Frederick Gibberd in den 1970er-Jahren erbaut. Die Fassade ziert derselbe Portland-Kalkstein, der zum Bau des Buckingham Palace und der St. Paul’s Cathedral verwendet wurde. Ein wenig erinnert das Bauwerk der Moderne mit seiner festungsgleichen Form an den Superblock des Roten Wien.
Doch anders als seine prunkvollen Nachbarn, wie das klassizistische Somerset House, schaffte es der baufällige Komplex nicht auf die Shortlist des Denkmalschutzes. Drei unabhängige Strukturen des Blocks wurden nun Stockwerk für Stockwerk abgetragen, um Platz für neue Gebäude zu schaffen. So ergeht es vielen Betonbauten dieser Ära. Die Initiative SOS Brutalism, die vor einigen Jahren gegründet wurde, will das ändern. Unter dem Motto „Rettet die Betonmonster!“ wird Lobbying für die bedrohten Bauten betrieben.
Architektonischer Schichtkuchen
Der Entwurf The Strand des mehrfach ausgezeichneten New Yorker Architekturbüros Raad Studio zeigt eine Alternative zur Abrissbirne. Eine Studie, die den historischen Kontext des Arundel Great Courts untersucht und die verschiedenen zeitgeschichtlichen Epochen freilegt. Der brutalistische Block steht auf den Überresten eines Herzogspalasts, der wiederum auf den Ruinen eines römischen Bades und einer angelsächsischen Siedlung. „Raad schafft eine Klammer für alle Elemente des historischen Schichtkuchens“, beschreiben die Architekten ihren ambitionierten Enwurf.
Wir subtrahierten große Volumen, die sich tief in die Geschichte des Gebäudes graben.
Raad Studio
Die entkernte Betonstruktur verwendeten sie wie Bildhauer einen Rohling, setzten tiefe Schnitte, perforierten Wände und entfernten Geschoßdecken. „Wir subtrahierten große Volumen, die sich tief in die Geschichte des Gebäudes graben. So entstehen öffentliche Grünflächen und Verbindungen, die das Areal räumlich und historisch zusammenfügen“, heißt es in der Konzeptbeschreibung von The Strand.
Die mit Bedacht gesetzten Design-Elemente hauchen der monumentalen Ruine neues Leben ein. Anstatt die Betonstruktur zu verstecken, machte Raad Studio den béton brut zum minimalistischen Stilelement ihrer Konzeptstudie. Ein diagonales Volumen durchzieht den gesamten Bau und schafft im Innenhof einen Dreh- und Angelpunkt.
Ikone mit Charakter
Die Ruinen des römischen Bades unter dem Gebäude bilden eine Achse mit dem unterirdischen Garten auf der Höhe des einstigen Palastes, weiter durch die Lobby und den öffentlichen Platz bis hinauf zu einem Fenster zum Himmel. Überall dort, wo der diagonale Schnitt den Bestand kreuzt, entstehen öffentliche Räume.
Der durchgehende Schrägschnitt durch das Gebäude ist eine räumliche Reise durch die Geschichte und die Zukunft des Ortes.
Jury, Architizer A+ Award
„Einem baufälligen Gebäude wird die Schwerkraft einer klassischen Ruine verliehen, und der durchgehende Schrägschnitt durch das Gebäude ist eine räumliche Reise durch die Geschichte und die Zukunft des Ortes“, lobt die Jury des Architizer A+ Awards die Studie.
Die Architekten ließen eine neue Ikone entstehen, die einen Bogen zwischen der geschichtlichen Bausubstanz und der zeitgenössischen Architektur spannt. Eine neue Landmark mit Charakter, wenn auch nur im Entwurf.
Text: Gertraud Gerst
Renderings: Raad Studio