Die vertikale Straße
Der iranische Architekt Farshad Mehdizadeh wickelt ein Geflecht an Gehwegen und Grünanlagen um das Einkaufscenter Tehran Eye. Damit schafft er die klassische Fassade ab und kreiert neues Mobiliar für die Stadt.
Die Gesellschaft verändert sich und mit ihr die Architektur. Zu den großen Themen von heute zählt einerseits die Suche nach neuen, ökologischen Bauweisen auf dem Weg zur Klimawende. Andererseits findet sie neue Ausdrucksformen, wenn es darum geht, öffentlichen und privaten Raum in der Stadt neu zu verhandeln. Dabei wird die klassische Gebäudefassade als feste Grenze zwischen innen und außen immer öfter in Frage gestellt. Eine neue Generation von Architekten lässt sie einfach weg und ersetzt sie durch Parks, Straßen und Regale, die sich um die Gebäude winden. Ein spektakuläres Beispiel dafür liefert der iranische Architekt Farshad Mehdizadeh vom Architekturbüro FMZD mit seinem Projekt Tehran Eye.
Ein strukturelles Problem
Er bekam den Auftrag, das bislang kaum besuchte Einkaufscenter in Teherans Stadtzentrum umzubauen und neu zu organisieren. Das Tehran Eye sollte nicht länger ein blinder Fleck auf der Stadtkarte sein, sondern sich in den städtischen Kontext der Shariati Street einfügen. Sie zählt zu den größten Einkaufsstraßen der Stadt und verbindet den Großen Bazar im Süden mit dem wohlhabenden Viertel im Norden.
Der einstige Klotz passte nicht in die kleinteilige Struktur der Umgebung und stand wie eine uneinnehmbare Festung inmitten des geschäftigen Treibens. „Die Shopping Mall mit neun Geschossen befindet sich in einer Straße mit kleinen Geschäften und Läden. Eine Struktur von dieser Größe kann in diesem Kontext, bei konträren Einkaufsgewohnheiten, nicht überleben“, konstatiert das Architekturbüro FMZD.
Ein interaktives Konzept
Die Lösung lag für die Architekten in einem Konzept, das die Menschen in direkte Interaktion mit den Schaufenstern treten lässt. Dazu verlegte er kurzerhand eine vertikale Straße um das Gebäude. Kleine Wege, Treppen und Plätze winden sich nach oben und bilden einen eigenen Raum, über den sich das Einkaufscenter nach und nach erschließt. Den Weg zur Spitze des verschlungenen Bauwerks, wo sich eine Parkanlage mit Aussichtsplattform befindet, säumen kleine Cafés, Shops und bepflanzte Terrassen.
Das gesamte Gefüge erinnert an die gewachsene Struktur verwinkelter Dörfer, die an Felsen gebaut sind. Anstelle des ehemals direkten und pragmatischen Eingangs setzt Mehdizadeh eine labyrinthartige Annäherung. Die Wege und Ebenen erschließen sich langsam und intuitiv.
Zwei Gebäude in einem
Der Entwurf sieht zwei in etwa gleich große Kubaturen vor, die gemeinsam das Tehran Eye bilden. „Funktionell betrachtet ist das Gebäude zweigeteilt – in einen Indoor-Bereich mit dem Einkaufscenter und einen Outdoor-Bereich mit dem vertikalen öffentlichen Raum“, heißt es im Entwurfskonzept.
Funktionell betrachtet ist das Gebäude zweigeteilt – in einen Indoor-Bereich mit dem Einkaufscenter und einen Outdoor-Bereich mit dem vertikalen öffentlichen Raum.
Farshad Mehdizadeh, Architekt
Dass immer mehr Einkaufscenter und große Möbelhäuser von der urbanen Peripherie in die Stadtzentren zurückkehren, ist ein Trend, der sich international beobachten lässt. Es ist der Gegenentwurf zu den architekturlosen Gewerbeparks, die sich an Autobahnabfahrten angesiedelt haben. Statt die individuelle Mobilität zu feiern, setzen immer mehr Unternehmen auf ein besonderes Architekturerlebnis, um Konsumenten abseits des Online-Handels anzulocken.
Neues Mobiliar für die Stadt
Gebäude müssen heute mehr können, als nur Raum in Anspruch zu nehmen. Sie sollen einen gesellschaftlichen Mehrwert bieten und der Stadt als Mobiliar dienen. Dieses Ziel verfolgen auch die fassadenlosen Gebäude, die gerade die Architekturszene weltweit erobern. Ikeas neue Filiale mitten in der Wiener Innenstadt hat ihre blaue Containerfassade abgeworfen. Stattdessen zeigt sie ein offenes Regalsystem mit bepflanzten Töpfen und Glaskobeln. Auf einem ähnlichen Konzept basiert auch das Wohnprojekt Green Villa von MVRD.
Diese fassadenlosen Gebäude sorgen nicht nur für mehr Grün in der Stadt, sie erzeugen auch ein Gefühl von Offenheit und Zugänglichkeit. Mit dem Wegfall der markanten Grenze zwischen privat und öffentlich entsteht eine neue Großzügigkeit des Raumes. Und mehr Aufenthaltsqualität für die Stadt von morgen.
Text: Gertraud Gerst
Visualisierungen: Ali Kazemi