Muschelschalen als Vorbild
Delugan Meissl Associated Architects hat für die chinesische Stadt Taiyuan den botanischen Garten entworfen. Darin sind drei Holzfachwerkkuppeln, deren Gitterschalen rekordverdächtig sind.
Die chinesische Stadt Taiyuan hält einen seltsamen Rekord: Sie verfügt über die meisten CCTV-Kameras (closed-circuit TV, also Überwachungskameras) je 1.000 Einwohner weltweit: 119,6 Stück laut dem Datenerhebungsinstitut Statista. Ob es daran liegt, dass sich in Taiyuan ein Kosmodrom, ein kleinerer Weltraumbahnhof für Satellitenstarts der chinesischen Trägerrakete Langer Marsch, befindet?
Riesige Kuppeln als Holzfachwerkkonstruktion
Das Rätsel bleibt vorerst ungelüftet. Abgesehen davon hat die sonst eher unscheinbare Hauptstadt der Provinz Shanxi im Nordosten Chinas nun einen anderen Rekord zu vermelden: Der botanische Garten verfügt seit 2021 über drei Gewächshäuser, die Taiyuan Domes. Sie wurden als halbkugelförmige Holzfachwerkkuppeln realisiert. Und mit einer lichten Spannweite von mehr als 90 Metern ist die breiteste der drei Kuppeln eine der größten derartigen Holzfachwerkkonstruktionen weltweit, wenn nicht die größte.
Dieser Umstand ist aus einem weiteren Grund architektonisch relevant: Das österreichische Büro Delugan Meissl Associated Architects (DMAA) leitete die Realisierung des botanischen Gartens, die die Schaffung einer künstlichen Landschaft mit Hügeln, Seen, Wasserfällen, Wegen und Gebäuden umfasste. Eine ähnlich interessante und riesige Holzfachwerk-Konstruktion ist das Swatch Headquarter in Biel von Stararchitekt Shigeru Ban.
Der „Schwarze Riese“, wie China manchmal angesichts seines auf der Kohleförderung basierenden Wirtschaftswunders genannt wird, setzt immer häufiger auch umweltpolitische Akzente: In oder in der Nähe von Städten sollen hochwertige Erholungsräume entstehen. Und diese sollen hohe Besucherzahlen generieren.
Forschungsstation im botanischen Garten
Und so lautete die Vorgabe für Taiyuan, dass das ehemalige Kohleabbaugebiet in einen Landschaftspark umgewandelt werde. Die rund 400 Kilometer von Peking entfernt gelegene Stadt ist ein Industriestandort für Kohlebergbau, Eisenverhüttung sowie die Erzeugung von Edelstahl und Aluminium. Gleichzeitig sollte das neue Bauvorhaben Infrastruktur für die Erforschung natürlicher Ökosysteme und die Wissensvermittlung darüber bereitstellen.
Für das Projekt war daher der Bau eines zentralen Eingangsgebäudes mit Naturmuseum und Verwaltung vorgesehen. Dazu die drei Gewächshäuser, ein Restaurant, ein Bonsaimuseum plus ein dazugehöriges Forschungszentrum mit Bibliothek und Personalbereich.
Das Herzstück der Gebäude bilden die drei halbkugelförmigen Gewächshäuser. Deren Bau erforderte viel technisches Know-how in den Bereichen Energiedesign, Wärmeschutz, Statik und Verglasung sowie nicht zuletzt Montage und Logistik. Die Tragwerksplanung für die Holzfachwerkkuppeln wurde vom deutschen Bauingenieurunternehmen Bollinger + Grohmann durchgeführt.
In die Konstruktion fließen umfassende Kenntnisse der lokalen klimatischen Bedingungen, der thermischen Anforderungen im Inneren des Bauwerks sowie der strukturellen Effizienz ein. Wesentliche Parameter für die Planung waren die Faktoren Luftzirkulation, Lichtstrahlung, thermische Wärmegewinnung und -speicherung sowie Wassergewinnung für die Pflanzenbewässerung.
Muschelartige Gebilde
Alle drei Holzfachwerkkuppeln bestehen aus doppelt gekrümmten Brettschichtholzträgern, die in zwei beziehungsweise drei sich kreuzenden Lagen angeordnet sind. Dass DMAA sich sehr früh dazu entschieden hat, möglichst viel Holz zu verwenden, hat die weitgehende Vorfertigung ermöglicht.
Die Kuppeln sind mit ebenfalls gekrümmten Glasscheiben verglast. Einige davon sind Fenster, die sich öffnen lassen. Die Hauptträger sehen von oben wie muschelartige Gebilde aus. Sie fächern sich vom Norden nach Süden hin auf. Der Grad der Transparenz der Verglasung ändert sich fließend entlang der Nord-Süd-Achse des Gebäudes und variiert von hochtransparent auf den nach Süden ausgerichteten Flächen bis hin zu vollständig undurchsichtig auf der Nordseite.
Auf diese Weise wird das Sonnenlicht optimal genutzt. Die speziell entwickelten Klimatisierungssysteme sind in das Fassadendesign integriert. Ein mit Biomasse betriebenes Blockheizkraftwerk versorgt das Gebäude mit Energie und Wärme.
In der größten Kuppel darf sich der tropische Garten entfalten. Der zweite Pavillon bildet eine Wüstenumgebung nach. Die kleinste Kuppel befindet sich am See und beherbergt die Ausstellung von Wasserpflanzen.
Hommage an die Bonsaikunst
Zum Eingangsgebäude gelangt man über einen großen Hof. Dort führt eine Freitreppe den Besucher hinauf, anschließen kann er durch eine kreisrunde Öffnung weiter auf eine riesige Dachterrasse. Von dort aus bietet sich der Blick über den gesamten Park. Die über der Wasserfläche auskragende Aussichtsplattform im Herzen des Parks leitet den Gast zu den drei Gewächshäusern des Botanischen Gartens über.
Die Terrassen des Bonsaimuseums sind in konzentrischen Kreisen angelegt. Der Weg, den die Besucher nehmen, spiegelt das Prinzip dieser domestizierten Naturlandschaft wider – handelt es sich doch bei einem Bonsai-Baum um ein in einem Pflanzgefäß gezogenes Bäumchen, das durch Kulturmaßnahmen wie Form-, Wurzel- und Blattschnitt klein gehalten und in künstlerischer Gestaltung in eine gewünschte Wuchsform gebracht wird. Die Bonsaikunst entstammt der Gartenkunst des chinesischen Kaiserreiches.
Fließender Dialog zwischen Architektur und Landschaft
Das Forschungszentrum enthält Labore, Ateliers, Bürogebäude, Werkstätten, Besprechungs- sowie Vortragsräume und eine Bibliothek. Es gliedert sich in mehrere unterschiedlich große Pavillons, die durch einen gemeinsamen Verbindungsblock auf Erdgeschossniveau miteinander verbunden sind.
Der Besucher erfasst intuitiv, dass das gesamte Gebäudeensemble auf einer Grundstücksfläche von insgesamt 182 Hektar ein fließender Dialog zwischen Architektur und Landschaft ist.
Text: Linda Benkö
Illustration/Fotos: CreatAR, Energy Design Cody, Bollinger + Grohmann