Unter der Drachenhaut
Das neue Aushängeschild der Marke Swatch ist keine Uhr, sondern Büroarchitektur der Superlative. Für die reptilienartige Silhouette des Swatch Headquarter in Biel baute Stararchitekt Shigeru Ban eine der größten Holzfachwerk-Konstruktionen der Welt.
Eine neue Gattung an Sauropsiden ist seit kurzem in der Schweizer Stadt Biel beheimatet. Mit 240 Metern Länge und 35 Metern Breite schlängelt sich ein geschuppter, reptilienartiger Körper entlang des Schüss-Kanals und lässt am Ende ein halbes Gebäude in seinem Maul verschwinden. Die einen denken dabei an eine Riesenschlange, die anderen an die Haut eines Drachen. Bei dem ungeheueren Wesen handelt es sich um das neue Swatch Headquarter, beim verschlungenen Bauwerk um das zugehörige Uhrenmuseum. Beides stammt aus der Feder des japanischen Architekten Shigeru Ban.
Ban ist der Mann fürs Außergewöhnliche. Er verbindet auf natürliche Weise Hightech mit Lowtech und hat in der Vergangenheit bewiesen, dass man sogar mit Papier bauen kann. Für seinen Innovationsgeist, seine unkonventionellen Ansätze und sein soziales Engagement wurde er 2014 mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet.
Architektur der Superlative
Der Schweizer Uhrengigant Swatch holte den japanischen Visionär für den Neubau des Swatch und Omega Campus. Für einen fulminanten Auftritt und ein weithin sichtbares Aushängeschild, das dem Pioniergeist des Unternehmens entspricht. In Tokio entwarf er zuvor für die Firmenzentrale in Japan ein Signature Building – das Nicolas G. Hayek Center, das nach dem Gründer des internationalen Konzerns benannt ist. Der Clou des Bauwerks: Die Glasfassade des schmalen, 13-stöckigen Gebäudes lässt sich über die gesamte Fassade nach oben hin öffnen.
Dieses Gebäude fordert aktuelle Konventionen heraus, genau wie die Uhren, die hier hergestellt werden.
Konzernleitung Swatch
Mit den Neubauten im Schweizer Ort Biel hat Shigeru Ban nun auch in der Welthauptstadt der Uhrmacherei eine architektonische Attraktion geschaffen. „Dieses Gebäude, das ein neues Kapitel in der Geschichte der Marke einläutet, fordert aktuelle Konventionen heraus, genau wie die Uhren, die hier hergestellt werden“ verlautete der Konzern bei der Eröffnung 2019.
Nach dem Bau der neuen Produktionsstätte für Omega folgte das Uhrenmuseum Citè du Temps und ein Drive-Through-Shop, bevor schließlich die neue Unternehmenszentrale eingeweiht wurde. Eine Büroarchitektur, die mit allen herkömmlichen Regeln bricht und konstruktionstechnisch einem Bahnhof näher ist als einem Office-Gebäude. Neben der spektakulären Hülle hat der Neubau noch ein paar weitere Superlative in sich vereint.
Hightech meets Lowtech
Die Außenhaut des organisch geformten Hallenbaus sieht nicht nur nach Hightech aus, sie ist es auch. Die Zwischenräume der Gitterkonstruktion sind mit unterschiedlichen Elementen gefüllt. Zum Teil mit Fenstern, zum Teil mit halbtransparenten Luftkissen und im hinteren Lagerbereich mit Photovoltaikelementen, die jährlich über 200 MWh Strom erzeugen. „Mit einer cleveren Grundwassernutzung zur Beheizung und Kühlung des Gebäudes sowie mit Solarstrom aus der Photovoltaikanlage wird massgeblich zu einer optimalen CO2-Bilanz beigetragen“, wird die ökologische Qualität des neuen Swatch-Tempels gepriesen.
Insgesamt wurden knapp 1.997 Kubikmeter Holz benötigt – eine Menge, die im Schweizer Wald in weniger als 2 Stunden wieder nachwächst.
Swatch, Bauherr
Die glatte Oberfläche des langgezogenen Bauwerks lässt von außen nicht erahnen, dass es sich hier um eine Holzfachwerkkonstruktion handelt, wie sie in der Gegend eine lange Tradition hat. Noch dazu handelt es sich um eine der weltgrößten Holzkonstruktionen dieser Art.
In der Gitterschale des Grundgerüsts wurden 4.600 Holzbalken passgenau ineinander gesteckt, was einen Zuschnitt auf Zehntelmillimeter erforderte. Das Holz, das dabei verarbeitet wurde, stammt ausschließlich aus Schweizer Wäldern. „Insgesamt wurden knapp 1.997 Kubikmeter davon benötigt – eine Menge, die im Schweizer Wald in weniger als 2 Stunden wieder nachwächst“, beteuert der Bauherr.
Verspielt wie Swatch
Im Inneren des Gebäudes sind 25.000 Quadratmeter Bürofläche auf fünf Stockwerke verteilt. Die offene Raumstruktur wird immer wieder unterbrochen – durch Bäume, die über zwei Stockwerke wachsen, bunt möblierte Pausenzonen und Treppen als Möbelstücke, den sogenannten „Reading Stairs“. Die farbenfrohen, kubischen Möbel lassen einen mancherorts an einen Kindergarten denken. Im Kontext neuer Arbeitsmodelle zur Mitarbeitermotivation an, würde auch dieser Ansatz nicht weiter verwundern. Rückzugsmöglichkeiten vom Großraumgebrumm finden Mitarbeiter in separaten „Alcove Cabins“.
Es ist mein bisher verspieltestes Projekt. Es ist Ausdruck für die Charakteristik von Swatch: verspielt und farbig.
Shigeru Ban, Architekt
Shigeru Ban, der für die elegante Einfachheit und Schlichtheit seiner Bauwerke bekannt ist, ließ für den Drachenbau seinem Spieltrieb freien Lauf. „Es ist mein bisher verspieltestes Projekt. Es ist Ausdruck für die Charakteristik von Swatch: verspielt und farbig.“
Text: Gertraud Gerst
Fotos: Swatch