Das längste Rohbambusdach der Welt
Auf dem Tea Leaf Market von Zhuguanlong kann man ein Exempel perfekter Kombination moderner und alter chinesischer Bautechnik bestaunen: Das von SUP Atelier designte, längste Rohbambusdach der Welt. Und dieses hat funktionell, technisch und kulturell sehr viel zu bieten.
Tee spielt in China seit jeher eine große Rolle. Vor allem für Gemeinden wie Zhuguanlong im Landkreis Shouning, wo über 90 Prozent der Anwohner in der Teeindustrie und verwandten Branchen arbeiten. Nur logisch, dass es dort eines zentralen Ortes für den Handel mit Teeblättern bedarf. Idealerweise eines Marktes, der darüber hinaus auch als Location für verschiedene kulturelle und sportliche Massenaktivitäten dienen kann. Diese Voraussetzungen im Kopf, schuf das chinesische Büro SUP Atelier of Thad ein nachhaltiges Wunderwerk für den Tea Leaf Market von Zhuguanlong: Ein Rohbambusdach mit stolzen 18 Metern Spannweite – und damit das weltweit längste seiner Art.
Nachhaltiger Prototyp
Der Pavillon beeindruckt jedoch nicht allein durch Größe. Er soll einen Prototyp liefern, der andernorts nachgebaut werden kann: Ein Konzept, das Handel und dörflichen Aktivitäten gleichermaßen beste Bedingungen bietet und so die ländliche Gemeinschaft fördert. Und zwar auf besonders nachhaltige Art.
SUP Atelier hat für den Tea Leaf Market traditionelle und moderne Bautechniken kombiniert, lokale Arbeitskräfte beschäftigt und recycelte oder wiederverwertbare Materialien aus der Region verwendet.
Das kühne Projekt wurde von den Behörden des Kreises Shouning unterstützt. Dank gemeinsamer Bemühungen von SUP Atelier, der lokalen Regierung, des Bambusbau-Unternehmens und der lokalen Bevölkerung wurde es 2020 erfolgreich abgeschlossen. Schon kurz zuvor wurde es mit einem UIA Award for Innovation in Architectural Education ausgezeichnet. Inzwischen durften sich die Architekten auch über einen Architizer A+Award 2021 und einen Platz in der Dezeen Longlist freuen.
Mehr als ein Marktplatz
In der Anfangsphase des Entwurfs untersuchte das SUP Atelier Team gemeinsam mit den lokalen Behörden die Möglichkeit eines großflächigen Raums mit hoher Nutzungseffizienz. Erfahrungen aus früheren Bambusbauten wurden dafür herangezogen. Mit einem Ergebnis, das nun vieles möglich macht.
Auf dem Tea Leaf Market können neben dem saisonalen Handel mit Teeblättern auch andere landwirtschaftliche Produkte verkauft werden. Zugleich lädt das schöne Konstrukt dazu ein, dort Freizeit zu genießen und mit Freunden und Kindern zu verweilen. Und bei besonderen Anlässen wie Hochzeiten, Beerdigungen oder traditionellen Festen können sich Menschen unterm langen Bambusdach versammeln.
Altes Wissen, neu genützt
Die größte Herausforderung des Projekts bestand darin, eine großflächige Struktur aus rohem Bambus zu bauen. Um von altem Wissen inspirierte Lösungen zu finden, befasste sich SUP Atelier etwa mit der „Regenbogenbrücke“. Dabei handelt es sich um eine Art traditioneller Holzbogenbrücke: Mit einfachen, aber zuverlässigen Technologien können Brücken und Unterstände großer Spannweite, die sich scheinbar in ihrer Bauart unterscheiden, errichtet werden. Und zwar aus leicht beschaffbaren Materialien, indem mehrere Struktureinheiten geeigneter Länge zusammengesetzt werden.
Dem Bau der längsten Rohbambusdecke der Welt gingen detaillierte Recherchen voraus. SUP Atelier und das auf Bambus spezialisierte Bauunternehmen führten aufwändige Belastungstests durch. Und die Architekten ließen sich von historischer Baukunst inspirieren. Schließlich gelten Pavillons und Türme seit jeher als Symbole chinesischer Kultur. Die typischen Gebäude sind nicht unbedingt geschlossen. Viele sind offen gestaltet und spiegeln das Konzept der Harmonie zwischen Mensch und Natur.
Offen und doch stabil
Obwohl der Tea Leaf Market als Wetterschutz dient, zeichnet sich auch der Bambus-Pavillon durch Offenheit aus. Seine Stampflehmwände, Betonstrukturen und Terrazzo-Böden sind so zusammengesetzt, dass sie natürliche Festigkeit vermitteln. Das mit modernen Technologien errichtete Metalldach fügt sich nahtlos in die leichte Bambusstruktur. Es garantiert Beständigkeit, zugleich jedoch die klimatische Anpassungsfähigkeit des Gebäudes.
Was SUP Atelier für den Tea Leaf Market in Zhuguanlong entworfen hat, folgt der eleganten Leichtigkeit klassisch chinesischer Bauten. So beeinflussten etwa deren typische, überhängende Dachvorsprünge das Design. Absolut aktuell sind indes die Maßnahmen, die im Namen der Nachhaltigkeit gesetzt wurden.
„Voraus-Denker“ SUP Atelier
Zu den wichtigsten Materialien zählen Stein, Bambus und Erde. Allesamt wurden vor Ort beschafft. Damit konnten lange Transportwege, zusätzliche Energiekosten und Umweltbelastungen vermieden werden. Und auch Recycling spielte eine Rolle: Metallbleche und Holzrahmen abgerissener Häusern wurden als Dachelemente wiederverwertet.
Obendrein haben die SUP Atelier Architekten schon bei der Planung weit voraus gedacht: Das Team liefert konkrete Vorschläge, wie der Neubau selbst eines Tages wiederverwertet werden kann.
So können aus dem verwendeten Stampflehm in zehn oder mehr Jahren neue Wände errichtet werden. Bambus und Holz können gereinigt und zu Möbeln verarbeitet, der Stein für Pflasterung genützt werden. Auch die CO2-Emissionen des gesamten Lebenszyklus hat SUP Atelier vorab berechnet und optimiert. Und zwar von Entwurf und Bau bis zu Betrieb und Entsorgung.
Schon dass recyceltes Metall und Holz sowie Naturmaterialien wie Bambus, Erde und Stein den größten Teil des Gebäudes ausmachen, reduziert die CO2-Emissionen der Konstruktion erheblich.
Auch das Geringhalten des Energieverbrauchs für Beleuchtung und Klimaanlagen war SUP Atelier wichtig. Ebenso, wie komfortable Verhältnisse unterm Dach des Bambus-Pavillons. Deshalb wurden vorab solarthermische und belüftungstechnische Simulationen vorgenommen.
Sparsam und umweltfreundlich
Der Materialeinsatz für den Tea Leaf Market ist so angelegt, dass er im Lebenszyklus des Gebäudes einen Kreislauf bildet. Die CO2-Emissionen werden, SUP Atelier zufolge, dadurch auf 24 Tonnen in zehn Jahren begrenzt. Ein Wert, der durch die Bambuslandschaft, die den Pavillon umgibt, leicht ausgeglichen werden könne.
Der Tea Leaf Market ist das jüngste SUP Atelier Projekt, das auf Basis von Material- und Technologiestudien und Beteiligung der Dorfbewohner entstand. Das Büro ist für seine ökologischen und kontextbezogenen Arbeiten bekannt. Ebenso, wie für sein Bemühen, traditionelle Methoden und Baustoffe zeitgemäß im Namen von Nachhaltigkeit und Lebensqualität zu nützen.
Trend zu „alten“ Materialien
Ein Ansatz, den inzwischen längst auch berühmte Büros wie Snøhetta oder Herzog & de Meuron verfolgen. Die nötige Expertise stammt dabei nicht selten vom Vorarlberger Lehmbau-Spezialisten Lehm Ton Erde.
Wie effektiv und sinnvoll der Einsatz lang in Vergessenheit geratener Materialien sein kann, beweist etwa auch Architektin Anna Heringer: Ihr sozial und nachhaltig famoses Meisterwerk „Anandaloy“ wurde 2020 mit dem Obel Award ausgezeichnet.
Bambus, Lehm & Holz
Auf derlei Baustoffe setzen allerdings auch Unternehmen wie Alnatura, dessen neuer Sitz in Darmstadt das Comeback von Lehm zelebriert. Und das Büro SOM sorgte bei der Chicagoer Biennale mit seinem Projekt „SPLAM“ für Begeisterung: Der mit Experten der University of Michigan entwickelte Pavillon demonstriert, wie modernste Technik Holz zum Top-Material der Zukunft macht.
Auch SUP Ateliers Tea Leaf Market in Zhuguanlong ist mehr als die längste Rohbambusdecke der Welt. Der Pavillon ist ein Exempel perfekter Kombination moderner und alter Bautechnik. Und er hat das Potenzial, in Regionen mit ähnlichen Bedingungen Nachahmer zu finden – zum Besten von Menschen und Umwelt.
Text: Elisabeth Schneyder
Bilder: SUP Atelier