Smart District auf historischem Grund
Die Siemensstadt 2.0 ist mit 600 Millionen Euro Investitionssumme das größte Entwicklungsprojekt in der Konzerngeschichte. Der Siegerentwurf stammt von Ortner & Ortner Baukunst. Das neue Areal wird eine Fläche von 70 Hektar mit teilweise denkmalgeschützter Architektur umfassen.
Jetzt kommt die „Siemensstadt 2.0“. Bis 2030 investiert die Siemens AG auf einem Teilgelände der „alten Siemensstadt“ 600 Millionen Euro – ihre größte Einzelinvestition in Berlin. Das großflächige Industrieareal Siemensstadt zwischen Charlottenburg und Spandau durchläuft eine Metamorphose hin zum modernen, von vielfältigen Nutzungen geprägten urbanen Stadtteil der Zukunft.
O&O Baukunst gewann Wettbewerb
Die neue Wohn- und Arbeitswelt umfasst auch Forschungsbereiche wie Elektromobilität, Industrie 4.0, Internet of Things und Künstliche Intelligenz. An die 20 Entwürfe wurden zum städtebaulichen Wettbewerb Siemensstadt 2.0 eingereicht. Das Berliner Büro Ortner & Ortner Baukunst mit capatti staubach – Urbane Landschaften hat die Jury überzeugt.
Der Entwurf ist kein fertiges Bild, sondern lässt Raum für notwendige Entwicklungen. Er geht respektvoll mit den historischen Gebäuden um und führt sie gleichzeitig in eine zeitgemäße Nutzung. Er erfüllt in großen Teilen die heutigen Bedingungen, lässt jedoch auch Raum für die künftigen Entwicklungen einer modernen, neuen Wohn- und Arbeitsstadt.
Jury unter der Leitung von Architekt Stefan Behnisch
Eine Ausstellung kann nun online im 360-Grad-Rundgang beschritten werden. Dort können die Bewertung der Jury und die Ideen der Architekten eingesehen werden.
32 Mal der Alexanderplatz
Das neue Areal der Siemensstadt wird eine Fläche von 70 Hektar mit teilweise denkmalgeschützter Architektur umfassen – 32 Mal so groß wie der Alexanderplatz. Als Smart District, der im Betrieb CO2-neutral arbeitet, werden in der Siemensstadt 2.0 künftig die Grenzen zwischen traditionell nebeneinander stattfindenden Lebensbereichen überbrückt und Forschung, Technologie, Innovation sowie Arbeiten, Produzieren und Wohnen miteinander vereint.
Das bis dato geschlossene Industrieareal wird sich künftig für die Bürgerinnen und Bürger öffnen, sämtliche Erdgeschosszonen werden zu einem durchgängigen und öffentlichen „Stadtgeschoss“ gestaltet. Das neue Zentrum bildet dabei ein prägnantes Hochhaus mit davor liegendem „Stadtplatz“. Lange Straßen und Achsen werden so vermieden, innerhalb des Areals entstehen unterschiedlich große Freiräume und Teilbereiche, die mit mehr oder weniger Wohnnutzung gemischt genutzte Quartiere bilden.
Urbaner Kiez der Zukunft
Zusätzliche 60-Meter-Bauten markieren an ausgewählten Positionen die Eingänge zum Areal. Die Schaltwerkhallen werden zum Teil für öffentliche und kulturelle Nutzung umgestaltet, das Schaltwerkhochhaus wird neben Büros auch Wohnungen und ein Hotel enthalten.
Der Kiez der Zukunft ist jetzt schon sichtbar: Auf dem Gelände des Berliner Dynamowerkes wurde bereits das A32 Entrepreneurs Forum Berlin Siemensstadt eröffnet – ein moderner Coworking-Space, der den Mitarbeitern von Siemens sowie Startups Raum für „agiles Arbeiten” bietet. Mit seinen über 1.000 m² und dem industriell gehaltenen Look spiegelt er nicht nur die Geschichte der Siemensstadt wider, sondern auch den Aufbruch ins Neue. Den Mittelpunkt bildet der „Work- und Eventspace” in einer ehemaligen Lagerhalle.
Fahrplan für die Siemensstadt 2.0
Der zeitliche Fahrplan: Der städtebauliche Masterplan für das neue Quartier dient als Basis für die Strategien und Handlungsvorschläge für die Stadtplanung. Gleichzeitig wurden die baurechtlichen Fragen abgeklärt, Voraussetzung für den städtebaulichen Vertrag mit der Stadt Berlin für das erste Modul. Die Planungen für die ersten Hochbaumaßnahmen dürften für die Bürger das spannendste Kapitel sein. Die ersten Bauarbeiten sind für 2022 anberaumt.
Im Zuge der „Randwanderungen der Industrie“, bei der Maschinenbaufabriken und Eisengießereien und später die Elektroindustrie insbesondere nach Moabit und Gesundbrunnen verlagert wurden, später Richtung Tegel, Spandau und Oberschöneweide, sahen sich die großen Unternehmen wie Siemens & Halske (S&H) sowie die Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft (AEG) gezwungen, die komplette Fertigung oder Teile davon an Standorte außerhalb Berlins zu verfrachten.
Siemensstadt einst
Und so errichtete Siemens & Halske im ausgehenden 19. Jahrhundert auf Brachland einen neuen Standort. Doch es sollte nicht bei Industriebauten allein bleiben. Auch an Wohnraum, Forschungseinrichtungen sowie soziale und kulturelle Einrichtungen war gedacht. Ein ganzer neuer Stadtteil entstand: Die Siemensstadt.
Zunächst war es Karl Janisch, der der Siemensstadt bis zum Ersten Weltkrieg ihr unverwechselbares Gesicht verleiht. Mit Bauten wie dem Kabelwerk Westend, dem Wernerwerk I oder dem Dynamowerk errichtete der Bauingenieur Fabriken, bei denen vor allem Effizienz im Vordergrund stand.
Nachfolger Hans Hertlein erweiterte in den 1920er-Jahren das Wernerwerk und stellte mit dem Schaltwerk-Hochhaus Europas erstes Fabrikhochhaus auf die Wiese. Sein charakteristischer Baustil der Moderne prägt bis heute die Wahrnehmung und Außenwirkung des Konzerns – nicht nur in Berlin. Für die Siemensstadt errichtete er Fabrik- und Verwaltungsgebäude, aber auch Wohnsiedlungen und Sozialbauten.
Zeilenbauweise im Test
Bereits damals galt es, Arbeiten, Forschen und Wohnen zu vereinen. Das Ziel war unter anderem, möglichst viele Klein(st)wohungen für die weniger betuchten Siemensmitarbeiter zu schaffen, als reine „Schlafwohnungen” sozusagen. Aber das Vorhaben diente auch zur Erprobung neuester städtebaulicher Erkenntnisse, unter anderem der Zeilenbauweise.
Der 1972 verstorbene deutsche Architekt, Hans Scharoun, einer der bedeutendsten Vertreter der organischen Architektur, entwarf den Bebauungsplan. Die Einzelbauten stammten von Mitgliedern aus „Der Ring”. Zur 1926 gegründeten Vereinigung deutscher Architekten des Neuen Bauens gehörte auch Walter Gropius. Es entstanden ausnahmslos mehrgeschossige Wohnbauten. Der Wohnungsschnitt und die Zimmergröße – für eine vierköpfige Familie waren im Durchschnitt 54 Quadratmeter bei zwei Zimmern vorgesehen – wurden standardisiert.
Die Großsiedlung wurde im Jahr 1931 bei der Internationalen Bauausstellung präsentiert, wie auch die Waldsiedlung „Onkel-Toms-Hütte” in Zehlendorf am Rande des Grunewaldes oder die „Weiße Stadt” in Reinickendorf. Insgesamt sind sechs Siedlungen der Berliner Moderne UNESCO-Welterbe.
Text: Linda Benkö
Visualisierungen, Fotos: Siemens, Doris Antony, Christian Fessel, Alexrk2 wikimedia, O&O Baukunst