Nachhaltiger Eyecatcher am Meer
An der Küste vor der belgischen Stadt Middelkerke ist mit Silt ein neuer Hauptplatz, eine neues Veranstaltungszentrum plus Hotel entstanden. Das Projekt wurde vom Designteam Nautilus innerhalb kürzester Zeit realisiert.
Die belgische Stadt Middelkerke hat einen mutigen Schritt gesetzt, indem sie bewusst in Form und Bild des Küstenstreifens eingegriffen hat. Spoiler: Mit Erfolg.
Wer Middelkerke bisher nicht kannte, dem sei verziehen. Middelkerke ist der Ortsteil der gleichnamigen Gemeinde in der Provinz Westflandern in Belgien. Bekannter, als Hafenstadt und Verkehrsknotenpunkt, ist die Nachbargemeinde Ostende. Während Ostende also vergleichsweise geschäftig ist – der Bahnhof wird täglich von rund 80 Zügen frequentiert und auch der Flughafen wird häufig angeflogen – findet man in Middelkerke vor allem eines: Ruhe.
Das Küstenstädtchen punktet mit dem teils 100 Meter breiten Strand mit seinem feinen Sand und der äußerst familienfreundlichen Infrastruktur. So helfen etwa große, bunte Orientierungspfosten Kindern in den Sommermonaten dabei, den Weg zurück zur Familie zu finden. Groß und Klein erfreuen sich zwischen Juli und September an den Kunstwerken, die es im Rahmen des Sandskulpturenfestivals zu bestaunen gibt.
Silt: Neuer Magnet für Locals und Touristen
Doch nun gibt es einen weiteren Anziehungspunkt: Die neue Dünenlandschaft, das neue Veranstaltungszentrum Silt. Und mittendrin dieser Baukörper, der einer Art hölzernen Steinkoralle ähnelt. Das gesamte Ensemble umfasst ein Casino, Restaurant und ein Hotel, einen multifunktionalen Raum plus eine Tiefgarage.
Ideengeber für die Umgestaltung war die ehemalige Insel Testerup. Sie war ursprünglich die Insel an der Küste östlich der Mündung des Küstenflusses Yser. An deren einem Ende lag besagtes Ostende und am anderen Westende – und in der Mitte Middelkerke. Im Frühmittelalter war Testerep durch einen natürlichen Kanal vom Land getrennt. Im Laufe der Zeit verlor Testerep jedoch durch Verlandung des Kanals völlig den Charakter einer Insel.
Replika der alten Küstenlandschaft
Das Konzept von Silt Middelkerke verfolgt daher noch andere Ziele: Durch die Integration von Dünen und Wasserläufen wird ein Stück des historischen Küstenlandschaftsbildes zeitgenössisch nach Middelkerke zurückgebracht.
Weiteres Ziel: Die Verbesserung des öffentlichen Raums. Das Zentrum von Middelkerke brauchte einen Verjüngungsimpuls, um Lebens- und Aufenthaltsbedingungen an der Küste zu schaffen, die den zeitgemäßen Anforderungen und Vorlieben von Einwohnern und Touristen gleichermaßen entsprechen. So lautete die Vorgabe der Stadtverwaltung.
Dies erforderte eine Neugestaltung des Epernay-Platzes. Dank der Tiefgarage wurde er zu einer autofreien Zone, seine Fläche verdoppelt. Der größte Teil des Platzes steht nun für Fußgänger und Radfahrer zur Verfügung.
Weiterer wichtiger Punkt: Die Verstärkung des Deichs. Der neue Seeschutz soll – den Berechnungen zufolge – selbst einem 1.000-jährigen Sturm mit außergewöhnlich hohen Wellen und Wasserständen von mehr als zwei Metern über dem aktuellen Hochwasserstand standhalten. Damit ist Middelkerke der am besten geschützte Ort an der belgischen Küste.
Neu erlebbare Dünenlandschaft
Im Herzen dieser neu erlebbaren Landschaft erhebt sich der Hotelturm mit seiner skulpturalen, ein wenig geheimnisvollen Silhouette. Das Bauwerk ist entlang der gesamten Küstenlinie gut sichtbar. Die Holzverkleidung des Turms, die im Laufe der Zeit auf natürliche Weise verwittern wird, unterstreicht die Verbindung zur Natur und betont den Nachhaltigkeitsaspekt des Projekts.
Ein ausgeklügeltes Beleuchtungskonzept, das in die Fassade integriert ist, hebt die Holzstruktur nach Sonnenuntergang hervor. Bei Tag und bei Nacht erscheint das Hotel wie ein einladender Leuchtturm.
Das Designteam Nautilus schuf ein harmonisches Zusammenspiel von Gebäude und Landschaft, wobei der markante Hotelturm als Wahrzeichen über der neu gestalteten Dünenlandschaft thront. Auf der erhöhten künstlichen Düne ist nun ein grüner Platz mit Teichen und Springbrunnen entstanden.
Wolkenkratzer prägen die Skyline einer modernen Stadt. Silt dagegen ist ,Landschaftshochhaus’, ein ,Landscraper’: Eine neue, einzigartige, horizontale Dünenlandschaft mit programmatischem Innenleben. Wir nutzen diese typische Landschaft als Mittel, um die Herausforderungen auf eine scheinbar natürliche Weise zu integrieren. Das Ergebnis ist eine neue, erlebbare Dünenlandschaft. Eine Landschaft, in der Bewohner und Besucher die Aussicht, das Meer, den Himmel und die Dünen genießen können.
Steven Delva, DELVA-Gründer und -Partner
Der neu gestaltete Platz, der Baukörper und die Dünenlandschaft setzen einen Kontrapunkt zur Mauer aus Wohn- und Bürotürmen, die sich dahinter erheben.
Erhebende Aussicht von der Düne aus
Marram-Gras, Kuhlen in den Dünen und Wege im Sand, die zum Strand führen, geben Middelkerke seine charakteristische Landschaft zurück. Der Strandhafer wächst gut in den Sanden der Stranddünen. Das mehrjährige, pflegeleichte Gras mit graugrünem, immergrünem Laub wird bis zu 1,2 Meter hoch. Mit seinem rhizomatösen Wurzelsystem eignet sich die wassersparende und widerstandsfähige Pflanze besonders gut zur Stabilisierung von Dünen und sandigen Böden.
Der Aufstieg auf den Gipfel der neuen Düne bietet eine atemberaubende Aussicht und ist selbst bereits eine Touristenattraktion.
„Das Projekt mit seinem bescheidenen Hotelturm fügt dem Ort viel neuen öffentlichen Raum hinzu, während er eine relativ kleine Grundfläche hat“, erklärt Reinald Top, Partner und Architekt des hauptverantwortlichen Büros ZJA. Dies trage dazu bei, den ökologischen Fußabdruck klein zu halten.
Das Hotel, das zur Kette C-Hotels gehört, ist mit den Veranstaltungs-Räumlichkeiten verbunden. Es ist im unaufdringlichen und doch markanten Baukörper untergebracht, das mit offenen Gittern aus gebogenen Balken aus Accoya-Holz umhüllt ist. Die Mitte des Hotelturms besteht aus einer hohen Lobby, die den Zugang zur Mehrzweckhalle, zum Restaurant und zum Kasino ermöglicht. Eine Lounge-Bar darf nicht fehlen.
Verschiedene Event-Bereiche unter der Dünenlandschaft
Die konvexe Form des Baukörpers bringt es mit sich, dass auch die Säulen und Innenfassaden geneigt sind. Die verschiedenen Bereiche unter der Dünenlandschaft wurden entsprechend ihrer Tageslichtbedürfnisse gestaltet: Das Restaurant ist der hellste Raum, mit zwei langen Glasfassaden und einem großen Oberlicht.
Der Veranstaltungsraum erhält gefiltertes Tageslicht und verfügt über Vorhänge zur Lichtregulierung, während das Casino fast vollständig unter der Landschaft verborgen liegt. Es öffnet sich mit einer langen Glasfront zum Strand und Meer hin. Von den großen Terrassen vor dem Restaurant und dem Casino aus, kann man Seeluft schnuppern und den Ausblick auf das Meer genießen gehen.
Die Hotelzimmer wiederum bieten mit großen Schiebetüren zu den Balkonen einen atemberaubenden Meerblick. Das hölzerne Gitterwerk sorgt dennoch für ausreichend Privatsphäre. Die Zimmer verteilen sich auf fünf Stockwerken, der Frühstücksraum befindet sich im sechsten Stock.
Neben der ansprechenden Optik erfüllt Silt Middelkerke vor allem eines: Das Bedürfnis der Stadtverwaltung und der Einwohner, über ein Mehrzweckgebäude zu verfügen, das als sozialer und kultureller Treffpunkt dient. Es ist sozusagen ein neues Wohnzimmer für die Stadt, in dem Kongresse, Ausstellungen und Konzerte stattfinden können.
Das Projekt wurde von Bouwteam Nautilus realisiert, einer niederländisch-belgischen Kooperation diverser Spezialisten. Teil des Teams waren die Hauptverantwortlichen für den Entwurf, ZJA und DELVA (Landschaftsarchitektur) in Zusammenarbeit mit OZ (Casino- und Hotelgestaltung) und Bureau Bouwtechniek (ausführender Architekt). Developer waren diverse Subunternehmen der Democo-Gruppe. Beratend stand unter anderem das dänische Büro COBE zur Seite.
Die Fertigstellung des Projekts erfolgte in bemerkenswert kurzer Zeit. Im Februar 2022 begann das Bauteam mit den Aushubarbeiten für die immense Baugrube. Noch in 2024 wurde das Gebäude eröffnet.
Die Düne als thermoregulierendes Element
Nachhaltigkeits- und Umweltkriterien sind nicht zweitrangig, sondern haben den gleichen Stellenwert wie Sicherheit, Funktionalität, Ästhetik und wirtschaftlicher Wert. Im Fokus stand daher auch die optimale Energieversorgung, optimale Produktionsprozesse und optimale Abfallwirtschaft zu erzielen.
Die künstliche Düne und ihr Sonnensegel in der Nähe der Terrassen des Hotels und des Casinos sind ein energiesparendes Element. Sie spenden im Sommer Schatten und isolieren im Winter. Die Wahl von Holz für die offene Verkleidung des Hotelturms sparte enorme Mengen an CO2 ein. Daneben wurde auch viel recyceltem Material verwendet.
AMP-Sieger und Archello-Award
Dass das Projekt international Anklang findet, ist evident: So wurde Silt Middelkerke im Vorjahr mit dem renommierten Architecture Masterprize (AMP) in der Kategorie „Hospitality“ bedacht. Die Auszeichnung AMP wurde 2016 ins Leben gerufen, um herausragende Designs zu fördern, zu würdigen und deren Bekanntheit zu steigern. Er bietet weltweite Anerkennung für Kreativität und Innovation in den Bereichen Architektur, Landschaftsarchitektur und Innenarchitektur.
Des weiteren landete ist Silt Middelkerke Finalist bei den Archello Awards in der Kategorie Mischnutzungsgebäude. Und das Projekt errang zwei BLT Awards (Built Design Awards) sowie den Belgian Construction Award 2024. Zwei Mal schaffte es Silt Middelkerke auf die Longlist der ARC24 Awards, einer Initiative von De Architect.
Text: Linda Benkö
Fotos: Stefan Steenkiste, Sebastian van Damme