Der Inkubator lebt!
Der See Sea Park ist viel mehr als nur ein Gewerbeobjekt: Das Gebilde gleicht einem aus unterschiedlichen Zellen zusammengesetzten, lebenden Organismus. Dazu passt auch sein außergewöhnliches Energie-Konzept.
Mit dem See Sea Park in der japanischen Stadt Ōi in der Provinz Fukui schuf das lokale Architekturbüro Osamu Morishita Architect and Associates nicht nur einen gewöhnlichen Inkubator. Gemeint ist hier ein „Brutkasten“ für aufstrebende Start-ups, eine Ideenschmiede für Innovation und Unternehmertum.
See Sea Park: Wie schwebende Wolken
Nein, im Gegensatz zu konventionellen geschlossenen Räumen haben die Architekten einen weitläufigen Raum unter „schwebenden Wolken“ entworfen, der sich in Abwechslungsreichtum und Ordnung entfaltet. Der Entwurf zielt darauf ab, ein Gefühl der räumlichen Dichte zu erzeugen. Es erinnert an das ländliche Dorfleben, wo sich die Häuser organisch aneinanderreihen. Die Architektur fügt sich harmonisch in die Topografie ein und schafft so einen faszinierenden und doch zeitlosen Ort, der mit der lokalen Gemeinschaft in Einklang steht.
Das für Mischnutzung gedachte Gewerbeobjekt wurde im Rahmen eines Wettbewerbs im Jahr 2019 ausgelobt. Die Hauptanforderung bestand darin, einen Standort zu entwickeln, an dem Menschen zusammenkommen, innovativ sein und neue Unternehmen vorantreiben können.
Von alten Traditionen und Gebäuden inspiriert
Es wäre nicht Japan und es wäre kein japanisches Architekturunternehmen, wenn man nicht alte Traditionen, herkömmliche Baustile, Lebensweisen von einst berücksichtigt hätte. Die Experten bei Osamu Morishita taten dies auf mehrfache Weise: Einerseits wurde das Konzept des See Sea Park an die heiligen Wälder Chinju-no-mori angelehnt. Andererseits hat man sich von alten japanischen Gebäuden mit ihren Lehmböden und Strohdächern inspirieren lassen.
Noch nie von Chinju-no-mori gehört? Da ist man als Europäer wohl kaum allein, es sei denn, man ist Japanologe. Chinju-no-mori sind heilige Wälder, die Shinto-Schreine umgeben. In unserer hektischen, lärmenden Zeit entsteht beim Gedanken an frisches Grün, beruhigende Vegetation, saubere Luft und Stille sofort Sehnsucht nach so einem Ort, wo Nachhaltigkeit natürlich gegeben ist, wo Wald und Besinnlichkeit die Hauptrolle spielen.
Spiritualität und Business-Welt im Einklang
Wie bringt man nun geschäftiges Business-Treiben mit Spiritualität im Einklang? Nun, Shinto-Schreine wurden häufig an der Grenze zwischen der „ewigen und der gegenwärtigen Welt“ errichtet. Beides schließt sich nicht aus: So wie auch das Gelände eines alten Chinju-no-Mori für Sommerfeste, Silvester und andere traditionellen Feiern genutzt wird, so kann auch der See Sea Park zweierlei vereinen.
Und so hofft auch die Stadtverwaltung, dass der neue Gewerbepark im Laufe der Zeit sowohl zu einem Ort für Business-Development als auch zu einem festen Bestandteil des Alltagslebens der Menschen und der Gemeinschaft wird.
Architektur, die an alte Volkshäuser erinnert
Die Architekten von Osamu Morishita wollten demnach (auch) eine Neuinterpretation eines Chinju-no-Mori gestalten. Anstelle eines geschlossenen Raums entwickeln sich die 72 „Zellen“ des See Sea Parks horizontal wie Wolken – oder profaner ausgedrückt wie einzelne Häuser dicht aneinander gedrängt in einem Dorf. Osamu Morishita Architects hat damit eine attraktive räumliche Dichte, eine Vielfalt innerhalb einer Ordnung auf kleinem Raum geschaffen.
Architektur ist während ihrer gesamten Existenz ein offensichtlicher Bestandteil der Umwelt. Wir wollen stets zeitlose Architektur realisieren, die dem Test der Jahre standhält.
Osamu Morishita, Architekt
Kommunale, gemeinschaftliche Aktivitäten unter der „Wolke“
Unter der „Wolke“ können sich die Bewohner und Besucher treffen, gemeinschaftlichen Aktivitäten nachgehen. Wie ein traditionelles Haus hat der See Sea Park einen Erdboden und ein großes Dach, unter dem die Luft gut zirkulieren kann. In den alten Häusern fühlte man sich an einem heißen Sommertag aufgrund des Lehmbodens tatsächlich kühl und erfrischt.
Das quadratische Dach und das Zedernholz des See Sea Park stellen eine einfache aber gemütliche Form sowie ein wohlbekanntes Material dar. Der Ort ist damit irgendwie zeitlos und den Menschen von vornherein vertraut.
Einheiten aus Luft, aufgeplustert wie eine Daunenjacke
Kommen wir zum sehr spannenden energetischen Konzept, mit dem nachhaltigen Ansatz, Sonnenenergie zu absorbieren und zu speichern, während die Einheiten die Wärme immer wieder auch abgeben. Anstelle konventioneller Ideen, bei denen Energie mithilfe von Isolierung und luftdichten Wänden gespeichert wird, setzt die Architektur auf eine offene, weiche Umgebung.
Anstelle eines Ziegeldachs, das eine große Wärmekapazität hat, oder eines Strohdachs, das die Luft hält, wird eine Ansammlung von „Einheiten“ aus Luftmassen gebildet. Diese sind mit einer transparenten ETFE-Folie bedeckt, wie von einer Daunenjacke umhüllt. Die „Einheit“ bildet gleichzeitig ein flexibles Gerüst, das den größeren Raum stützt und sich scheinbar endlos ausdehnen könnte. Alle Einheiten sind miteinander verwoben. Die Architektur erleichtert den Luftstrom.
Insgesamt besteht der See Sea Park aus 72 würfelförmigen Einheiten. Getragen werden sie von 15 „Baumsäulen“. Jede Einheit misst 4,8 Quadratmeter und ist 2,4 Meter hoch. Ein ringförmiger Kern in der Mitte sowie diagonale Elemente, die von ihm ausstrahlen, stabilisieren die Gebilde.
ETFE-„Monocoque“-Membran als Hülle
Durch die Art und Weise wie sie kombiniert und zusammengefügt sind, entsteht eine bogenförmige Fachwerkstruktur. Diese macht den darunter liegenden Raum frei und für die Nutzer und Besucher leicht zugänglich.
Durch die Zusammensetzung der 72 Einheiten, 15 Bäume und den Oberlichtern aus ETFE entsteht ein zufälliges geometrisches Muster. Die einschalige Membran deckt die gesamte Dachfläche ab.
ETFE hat so gut wie keine Isolierleistung. Aber es spielt auch eine Rolle bei der Abgabe der in der Einheit gespeicherten Wärme an die Umgebung. „Selbst bei einer Daunenjacke ist die Außenhaut, die die Federn umhüllt, analog der Luftmassen, sehr dünn. Es wird Energie gespeichert und durch sie hindurch geatmet“, erklärt Architekt Osamu Morishita.
Resistentes und temperaturbeständiges Material
ETFE ist die Abkürzung für Ethylen-Tetrafluorethylen-Copolymer, das sich gut zu Folien verarbeiten lässt. Der Kunststoff beziehungsweise die Folien haben nur ein geringes Eigengewicht. Des weiteren weisen sie eine hohe Licht- und Ultraviolett-Durchlässigkeit auf. Das Material ist sehr resistent gegen viele aggressive Chemikalien und sehr temperaturbeständig.
Zum Einsatz gelangte ETFE beispielsweise beim Dach und der Fassade der Allianz Arena, die aus 2.784 ETFE-Folienkissen bestehen. ETFE-Folien werden vorwiegend bei Membrankonstruktionen verwendet, etwa als Überdachung von Schwimmbädern. Weitere Beispiele für deren Einsatz sind die Gemini Residence in Kopenhagen oder das Eden Project in England und das Mercedes-Benz Stadium in Atlanta.
WAF-Award für Nutzung des natürlichen Lichts
Das Sonnenlicht wird im Inneren des See Sea Park-Gebildes durch ein Prisma aus Zedernholzlamellen gestreut. Es füllt den Innenbereich mit einem warmen Licht. Nicht verwunderlich also, dass das Projekt im Vorjahr den Preis für die „Beste Nutzung des natürlichen Lichts“ bei den WAF Awards gewonnen hat.
Gemäß baubiologischen Prinzipien haben die Experten von Osamu Morishita Architects die Isolierung nur an den vertikalen Kanten des Bodens angebracht. Wärmeenergie wird direkt aus dem Erdreich übertragen.
Nachhaltiges Energie-Management
Im Atrium wird die Energie aus einem 100 Meter tief gebohrten Brunnen gewonnen. Sie wird dann in einen Regenwasserspeicher geleitet und für die Fußbodenheizung und -kühlung genutzt.
Bei Einbruch der Dunkelheit verwandelt sich die Anlage in ein faszinierendes Lichtermeer, das Besucher aus der näheren und weiteren Umgebung anlockt. Von oben aus gesehen wirkt die Figur des See Sea Parks fast wie leuchtende Zellen eines Lebewesens. Der See Sea Park wird zweifellos viele Menschen anlocken und sich zu einem dynamischen Zentrum für allerlei Veranstaltungen und Aktivitäten entwickeln.
Sehen und Gesehen werden im See Sea Park
Aber warum heißt das Zentrum eigentlich See Sea Park? Nun, einerseits geht man naheliegenderweise dort hin, um einander zu sehen und gesehen zu werden. Andererseits befindet sich Ōi tatsächlich am Meer. Die Stadt liegt auf zurückgewonnenem Küstenland.
Osamu Morishita Architect & Associates ist ein japanisches Architekturbüro, das sich auf den Entwurf, die Bau-Überwachung und das Projektmanagement von Gebäuden spezialisiert hat, die von Gewerbeobjekten bis hin zu öffentlichen Einrichtungen reichen. Das Büro führt sowohl Sanierungen und Renovierungen als auch Neubauten durch. Arbeitsfelder sind Umweltdesign, Objekt- und Produktdesign sowie Innenarchitektur.
Text: Linda Benkö
Fotos: Tomoki Hahakura, Osamu Morishita Architect and Associates; Richard Bartz, Munich aka Makro Freak