Wo wilde Kerle wohnen könnten
Ob im Rockbound House wirklich wilde Kerle wohnen, ist nicht bekannt. Offen sichtbar ist jedoch, dass das von Omar Gandhi Architects entworfene Einfamilienhaus in Nova Scotia höchsten Ansprüchen gerecht wird: in puncto Design, Baubiologie und Technik.
Von Architekt Omar Gandhi wird erzählt, er schicke seine Studentinnen und Studenten an der Yale School of Architecture schon mal mit dem Bilderbuch „Wo die wilden Kerle wohnen“ ins Gelände. Ein ganzes Semester-Seminar hat er nach dem Kinderbuchklassiker von 1963 von Maurice Sendak benannt, der wegen seiner schaurig-schönen Figuren berühmt – aber auch umstritten – ist.
Für das Abschlussprojekt fanden sich der Professor und seine Klasse auf der windgepeitschten Insel Cape Breton ein. Damit sind wir schon mitten auf dem Schauplatz: In der ostkanadischen Provinz Nova Scotia.
Eines der jüngsten Objekte von Omar Gandhi Architects ist das Rockbound House. Es ist in Musquodoboit Harbour auf der Halbinsel Neuschottland gelegen. Ein Haus, insbesondere ein so auffälliges und anspruchsvolles wie das Rockbound House, auf dem dortigen drei Hektar großen Gelände zu errichten, ist keine leichte Aufgabe.
Gebaute Widerstandsfähigkeit
Was aber leicht fällt ist, von diesem prächtigen Stück moderner Architektur an der felsigen Küste beeindruckt zu sein. Zumal sich bei der Realisierung des 380 Quadratmeter großen Rockbound House ungeahnte zusätzliche Hürden aufgetan haben, die es zu meistern galt.
Der Gegensatz könnte nicht größer sein: In der von den Naturgewalten gezeichneten, zerklüfteten Küste steht das Rockbound House als Zeugnis für gebaute Widerstandsfähigkeit. Und für die bereits erwähnte architektonische Brillanz. Die war angesichts der ungeahnten Erschwernisse beim Bau auch nötig.
Gut angepasstes Küsten-Refugium
Die Auftraggeber von Rockbound wünschten sich ein Refugium: Weg vom hektischen, städtischen Leben. Und gleichzeitig eine Symbiose mit der sich durch Wind und Witterung ständig verändernden Schönheit der Bucht. Das von den visionären Köpfen des Büros entworfene, außergewöhnliche Küstenrefugium ist extrem gut an die Umgebung angepasst – mit Anmut und schlichter Eleganz.
Um sicherzustellen, dass Rockbound House den sich ändernden Wetterbedingungen über Generationen hinweg standhält, wurde der Schwerpunkt des Designs nicht nur auf schlichte Schönheit gelegt. Langlebigkeit und Anpassungsfähigkeit an sich ändernde Wettermuster waren Hauptkriterien für den architektonischen Entwurf.
In Würde altern – mit Zedernholz
Die Architekten des kanadischen Büros Omar Gandhi Architects wählten daher Materialien mit natürlichen Verwitterungseigenschaften. Sie ermöglichen es dem Gebäude, in Würde zu altern und die Geschichte seines Platzes in der Landschaft zu erzählen – auch den späteren Generationen.
Seinen Hang zu Holz und Patina hat der kanadische Star-Architekt Omar Gandhi bereits bei der Restaurant-Landschaft ganz aus Holz für das Prime Seafood Palace des kanadischen Promikochs Matty Matheson unter Beweis gestellt.
Von den ringsum verstreuten Felsbrocken inspiriert, entschied sich das Architekturbüro für eine auffällige Zedernholzverkleidung. Sie altert auf natürliche Weise. Mit der Zeit wird das Holz ergrauen und so mit dem hellgrauen Himmel zusehends verschmelzen.
Umgeben von rauem Territorium
Das Haus erhebt sich aus dem felsigen Gelände, das das Gesicht der Ortschaft Hubbards prägt. Nein, eigentlich thront Rockbound House richtiggehend auf dem Grundstück, etwa 50 Kilometer der Provinzhauptstadt Halifax entfernt. Hubbards liegt am Nordufer der St. Margarets Bay. Jedenfalls am Nordatlantik. Und damit umgeben von sehr rauem Territorium.
Das Haus besteht aus zwei ineinandergreifenden „Kästen“. Die Cortenstahldetails rahmen die Fenster ein, sodass diese wie Bilder erscheinen. Die Eingangstür, die strategisch im Foyer platziert ist, bietet verlockende Einblicke in das Innere. Wenn man um die Ecke biegt, öffnet sich der Raum dramatisch und gibt den Blick auf das Wasser frei.
Vor den Launen der Naturelemente geschützt
Das Rockbound House wurde so platziert, dass es seinen Bewohnern eine unvergleichliche Aussicht auf die Inseln und den weiten Atlantischen Ozean bietet. Dennoch sind sie und das Haus vor den schwierigen Winden und Stürmen geschützt, die durch die Bucht fegen.
Der Grundriss des geradlinigen Hauses ist strategisch so angelegt, dass die Haupt-Wohnbereiche parallel zum Wasser verlaufen. Die Servicebereiche dagegen sind zum Hang ausgerichtet. Das Ess- und das Wohnzimmer verfügen über große Fensterwände, die nach Osten weisen. So ergibt sich ein atemberaubender Panoramablick entlang der Küste und über die Bucht bis zum ikonischen Leuchtturm Peggy’s Cove.
Der in den klassischen rot-weißen Farben gehaltene Leuchtturm wird immer noch von der kanadischen Küstenwache betrieben. Peggy’s Point ist eine der meistbesuchten Touristenattraktionen der Provinz. Er gilt als einer der bekanntesten Leuchttürme der Welt. Auf der Suche nach dem besten Standort für ein Selfie soll jedoch schon so mancher Besucher bei hohem Wellengang von den Felsen gefegt worden sein.
Innovative Technik in Eleganz verborgen
Abgesehen von seinem auffälligen Äußeren liegt die wahre Innovation des Einfamilienhauses Rockbound House in der „unsichtbaren“ Technik. Hinter der Fassade verbirgt sich eine Meisterleistung der Ingenieurskunst. Bauherren und Bauunternehmen fuhr der Schreck ganz schön in die Glieder: Während der Arbeiten wurde ein Flöz entdeckt, eine sedimentär entstandene, parallel zur Gesteinsschichtung verlaufende Ablagerung. Dies drohte das gesamte Projekt zum Scheitern zu bringen. Die Konstruktion musste folglich eine „Naht“ im Felsgestein überbrücken.
Die ausgeklügelte Abstimmung zwischen dem Statiker und dem Projektarchitekten führte zur strategisch geschickten Platzierung eines ganzen Systems von Mikropfählen. Diese helfen die Lasten umzuverteilen und die Stabilität und strukturelle Integrität des Gebäudes zu gewährleisten. Das Stahl- und Holzgerüst wurde so konzipiert, dass es nun sogar Orkanböen standhalten kann. Dies lässt sich von außen besehen gar nicht ablesen.
Harmonischer Tanz von Innen und Außen
Nähert man sich dem Gebäude von der öffentlich zugänglichen Seite her, hat man nichtsahnend das Gefühl einen Schutzraum, der die Privatsphäre wahrt, zu betreten. Die Eingangstür ist sorgfältig im Foyer platziert. Geht man um die Ecke, öffnet sich der Raum und gibt den atemberaubenden Blick auf das Meer frei.
Im Inneren bilden die warmen Töne der Fliesen, das weiße Eichenholz und Handwerkskunst aus natürlichen Hölzern ein zwingend logisches Gegengewicht zu den kühlen Grau- und Blautönen der Bucht und des Wassers. Gleichzeitig wirkt die Komposition harmonisch und hüllt die Bewohner gemeinsam mit der sorgfältigen Handwerkskunst in eine heitere und einladende Atmosphäre ein. In Kontrast dazu stehen die rohen Stahlakzente im Treppenhaus und beim Kamin.
Intime Verbindung mit der umgebenden Landschaft
Vom Wohn- und Esszimmer gelangt man zu einer großen, halb überdachten Terrasse. Sie lässt die Grenzen zwischen drinnen und draußen verschwimmen und bringt das Rauschen der Wellen und die Natur in die Wohnräume.
Das Schlafzimmer im Obergeschoß scheint über den Hauptwohnräumen zu schweben. Die Suite mit Blick auf das Meer verfügt über einen großen Balkon, der über das Erdgeschoss hinausragt. Dadurch entsteht Schatten für die großflächige Verglasung darunter. Die Bäder befinden sich diskret auf der Westseite.
In Rockbound House ist viel Fachwissen und Materialkenntnis eingeflossen. Angefangen bei den Fensterrahmen aus Corten-Stahl bis zu den mit sorgfältig abgestimmter Verkleidung versteckten Garagentoren. Das Design-Team hat nahtlos verlaufende Linien geschaffen, die die Baukörper wunderbar nachzeichnen.
Das Zusammenspiel von Licht und Schatten, die sorgfältige Berücksichtigung von Perspektiven und die Vielfalt der Räume ergeben zusammen einen exquisiten und einzigartigen Rückzugsort. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Rockbound mehr als nur ein Gebäude ist; es ist eine lebendige, atmende Verkörperung der dauerhaften Verbindung zwischen der Menschheit und der Natur, wenngleich einer, wie hier, schroffen Natur.
Omar Gandhi Architects (OG) wurde 2010 gegründet und betreibt Designstudios in Toronto und Halifax. Das Portfolio des international ausgezeichneten Büros umfasst Wohnhäuser, mittelgroße und große öffentliche Bauten sowie Landschaftsplanung im historischen Kontext.
Der Sinn für das Spielerische und das Unerwartete ist ein wesentlicher Bestandteil der Entwürfe von Gandhi und seinem Team. Jedes Projekt wird so von der Form, den Innenräumen her und der Art und Weise, wie die Materialien zum Einsatz und Ausdruck kommen, einzigartig und überraschend.
Text: Linda Benkö
Fotos: Ema Peter