Transformation auf Schiene
Es braucht neue Strategien für die sinnvolle Nachnutzung von Industriebrachen. Die Re-Use-Spezialisten von Smartvoll zeigen, wie aus der alten Remise Amstetten ein neues Ökosystem aus Pflanzen, Tieren und Menschen entstehen kann.
Die Eisenbahn gilt als Wegbereiter der industriellen Revolution. Erst durch den Transport großer Mengen von Gütern und Rohstoffen wurde die serielle Massenproduktion möglich. Wenn es also um den historischen Gebäudebestand der Eisenbahn geht, dann handelt es sich um Zeugnisse der Kulturgeschichte von identitätsstiftendem Wert. Die alte Remise Amstetten am Bahnhofsareal ist so ein Fall.
Früher hat man hier auf 22 Gleisen Züge und Loks rangiert, bis der Ort im Zuge von Digitalisierung und Automation irgendwann nicht mehr zeitgemäß war. Nach einer erfolgreichen Zwischennutzung als Konzertlocation soll hier nun ein innovativer Campus entstehen, der Arbeiten, Bildung, Kunst, Wohnen und Freizeit miteinander verbindet. Die Wiener Architekten von Smartvoll – die Spezialisten, wenn es um adaptiven Re-Use geht – haben einen Wettbewerbsbeitrag geliefert, der gleich mehrere Aspekte der Nachhaltigkeit unter einen Hut bringt.
Ein Plädoyer für den Bestand
Grundsätzlich war es den Architekten ein großes Anliegen, den Bestand so weit als möglich zu erhalten und in das neue Konzept zu integrieren. Dahinter stehen zwei grundsätzliche Überlegungen: Zum einen schafft die Remise mit ihrem historischen Flair einen einzigartigen Ortscharakter, den man bewahren wollte, wie Dimitar Gamizov von Smartvoll Architekten erklärt: „Der Charme des Bestehenden und die Patina sind ein atmosphärischer Hauptgewinn, gerade in einem Quartier, das fast ausschließlich von Neubauten geprägt sein wird.“
Der Charme des Bestehenden und die Patina sind ein atmosphärischer Hauptgewinn, gerade in einem Quartier, das fast ausschließlich von Neubauten geprägt sein wird.
Dimitar Gamizov, Smartvoll Architekten
Zum anderen bringt der Bestandserhalt auch handfeste ökologische Benefits, da in der vorhandenen Substanz jede Menge graue Energie steckt. Darunter versteht man die gesamte Energie (und die dabei entstandenen Emissionen), die für den Bau aufgewendet wurde – von der Gewinnung der Rohstoffe und der Herstellung der Baumaterialien bis zum Transport und Bau der Struktur.
Bei einem Abriss geht diese Primärenergie verloren und ein neuer Produktionsablauf beginnt, der wieder Energie verbraucht und Emissionen erzeugt. Wenn man weiß, dass 11 Prozent der globalen CO2-Emissionen bei der Herstellung von Baustoffen entstehen, dann dürfte klar sein, dass hier der entscheidende Hebel für das klimafreundliche Bauen liegt. Das heißt, Materialien und Strukturen sollten künftig so lange wie möglich im Kreislauf bleiben.
Ökologischer vs finanzieller Wert
Leider ist es nach wie vor noch so, dass Abriss und Neubau günstiger und mit weniger Aufwand verbunden sind als der Erhalt von Altbestand. Dies war auch einer der Gründe, warum der Beitrag von Smartvoll auf dem dritten Rang landete, wie die Jury in ihrem Urteil erklärte: „Der Aufwand des Bestandserhalts scheint unter Berücksichtigung der Tragfähigkeit und des Brandschutzes in keinem vernünftigen Verhältnis zum finanziellen Einsatz zu stehen.“
Auch wenn das Projekt nicht umgesetzt wird, so zeigt es dennoch sehr eindrucksvoll, wie sich eine Industriebrache clever adaptieren und mithilfe des klimaneutralen Holzbaus nachverdichten ließe. Dazu ergänzten die Architekten die rund um eine Drehscheibe angelegte Werkhalle um vier Baukörper, die aus dem Bestand zu wachsen scheinen. Die neuen „Implantate“ sind achtsam platziert und dimensioniert, sodass sie den Bestand nicht überlagern, sondern mit ihm in Dialog treten.
Ungezähmte Natur statt getrimmter Rasen
„Es geht im Projekt nicht um den dogmatischen Erhalt von Substanz, sondern um das präzise Auswählen von bestehenden Qualitäten“, erläutert Gamizov. Das alte Dach etwa ist in seiner aktuellen Form nicht für eine Nachnutzung geeignet und muss ersetzt werden. Auf dem neuen Dach entsteht ein Garten, der von den Bürogebäuden aus zugänglich ist. „Alt und Neu schaffen in der Kombination viel mehr Qualitäten als es den einzelnen Bauteilen alleine je gelingen würde.“
Alt und Neu schaffen in der Kombination viel mehr Qualitäten als es den einzelnen Bauteilen alleine je gelingen würde.
Dimitar Gamizov, Smartvoll Architekten
Die kreisförmige Freifläche im Inneren der Brache hat sich die Natur in den letzten Jahren des Leerstandes zurückgeholt. Ein Prozess, der im Entwurf schlüssig weitergeführt wird. Anstatt auf getrimmten Rasen und überregulierten Grünraum setzen die Architekten auf eine gewollt ungezähmte Bepflanzung aus Bäumen und Präriegarten, die das Quartier „für eine heißer werdende Zukunft rüsten“.
Die alte Drehscheibe in der Mitte wird zum Biotop mit eigenem Mikroklima und trägt mit der unversiegelten Grünfläche rundherum dazu bei, dass Regenwasser aufgenommen und gespeichert wird. „Die Stadt verstehen wir als gemeinschaftliches Ökosystem aus Pflanzen, Tieren und Menschen, die nur im Zusammenspiel gut funktionieren können.“
Text: Gertraud Gerst
Visualisierungen: Tomak Vitalii & smartvoll