Wohnen mit Büro-Attitüde
Während Büros neuerdings immer mehr nach Wohnräumen aussehen, haben sich zwei Architekten die gegenteilige Aufgabe gestellt. Sie haben die Bürotypologie auf ein Wohnhaus angewandt. Das Ergebnis heißt Ravine House und liegt an einer schwedischen Felsklippe.
Die Gegend um die malerische Meerenge Skurusund in Stockholms Vorort Nacka diente den Städtern früher als beliebte Sommerfrische-Destination. Entsprechend war die Landschaft mit den typischen roten Holzhäusern bestückt. Mit der Zeit wurden daraus größere Häuser und Villen, die das ganze Jahr über bewohnt sind. In den 1970er-Jahren startete man eine Wohnbauoffensive, sodass Nacka heute zu den einwohnerstärksten Gemeinden im Großraum Stockholm zählt. An einem malerischen Felsgraben, wo eine sinnvolle Bebauung nur schwer vorstellbar war, sollte ein Einfamilienhaus entstehen. An zwei Seiten von zerklüftetem Gestein umgeben, erarbeiteten Kolman Boye Architects einen Entwurf für ein Haus in Holzbauweise, der maßgenau in die Felsenklippe eingepasst ist. Das Ravine House, zu Deutsch „Schluchthaus“, reicht von der oberen Gesteinskante bis zum Fischteich am Boden des Grabens.
Büroturm oder Wohnhaus?
Von außen betrachtet scheint es einem Bürogebäude näher zu sein als einem Wohnhaus. Allerdings sind in den letzten Jahren die äußeren Gestaltungsmerkmale der beiden Typologien mehr und mehr in einander übergegangen. Waren Bürogebäude früher ein Ort der dunklen Gänge und der hochgeschlossenen Fassaden im internationalen Stil, sind wohnliche Lounge-Oasen und begrünte Außenräume heute State of the Art.
Die strenge Gliederung der Holzbauteile in horizontale und vertikale Elemente stellt einen Kontrast zum Gelände dar.
Kolman Boye Architects
Dass das dreigeschossige Ravine House auch als Büroturm im Kleinformat durchgehen könnte, liegt an der rationalen Fassade und den repetitiven Holzrahmen-Elementen.
Die Architekten und Bürogründer Erik Kolman Janouch and Victor Boye Julebäk wollten damit, wie sie sagen, ein bewusstes Spannungsfeld zwischen Natur und Architektur kreieren: “Die strenge Gliederung der Holzbauteile in horizontale und vertikale Elemente stellt einen Kontrast zum Gelände dar und verleiht der Beziehung zwischen Haus und Grundstück einen starken Charakter.“
Ein Hochhaus zum Wohnen
Um den Fußabdruck des Hauses möglichst klein zu halten setzten sie auf einen kompakten Grundriss. Das Haus dockt auf den oberen beiden Geschossebenen mit Terrassenflächen an die Felswände an, wodurch sich die Stabilität für das vertikal ausgerichtete Haus ergab.
Zugleich nimmt sich das Schluchthaus mit seiner turmähnlichen Form in der wilden Landschaft zurück. Derartige „Hochhäuser“ zum Wohnen erfreuen sich im ländlichen Bereich aufgrund des geringen Bodenverbrauchs immer größerer Beliebtheit.
Die drei Geschosse unter Einhaltung der Bauvorschriften auch nach außen hin zugänglich zu machen und dabei die Baukosten nicht aus den Augen zu verlieren, sei eine „gewaltige Aufgabe“ gewesen, so die Architekten. Auch wenn aus Gründen der Nachhaltigkeit großteils erneuerbare Materialien zum Einsatz kamen, konnte durch ihren klugen Einsatz Geld gespart werden.
Veredelung eines erschwinglichen Baustoffs
„Bei diesem Projekt haben wir eine Idee zur Veredelung von Rohholz getestet. Astiges Kiefernholz wurde durch ein ausgewähltes Säge- und Leimverfahren in astfreies Kiefernholz verwandelt“, erklären die Architekten.
Durch ein ausgewähltes Säge- und Leimverfahren wurde das Kiefernholz von einem erschwinglichen und leicht erhältlichen Baustoff zu einem edleren Material.
Kolman Boye Architects
Während das astige Holz für verdeckte Bauteile verwendet wurde, behielt man die makellosen Teile für die sichtbaren Oberflächen. „Dadurch wurde das Kiefernholz von einem erschwinglichen und leicht erhältlichen Baustoff zu einem edleren Material mit einer feinen Textur.“
Diese Feinstofflichkeit offenbart sich bei einem Blick ins Innere des Gebäudes. Dass es sich tatsächlich um ein Wohnhaus handelt, daran besteht nun kein Zweifel mehr. Eine monochrome Szenerie aus warmen Holzoberflächen schafft ein ruhiges, gediegenes Ambiente. Alles, von den Möbeln, über die Fensterrahmen bis hin zur Decke scheint aus einem Guss zu sein.
Kontrastiert wird diese Homogenität vom Ausblick auf die nahen Felswände auf der einen und die Stockholmer Hafeneinfahrt auf der anderen Seite. Durch die dezente Zurückhaltung im Design wird die dargebotene Landschaft im Ravine House zum Hauptprotagonisten. Und das sowohl im Inneren als auch im Äußeren.
Text: Gertraud Gerst
Fotos: Johan Dehlin