Flanieren auf Distanz
Der Parc de la Distance vom österreichischen Studio Precht macht den Spaziergang im städtischen Park abstandstauglich und bietet auch nach der Pandemie einen Mehrwert für den urbanen Raum.
Der Lärm der Stadt ist nur noch ein entferntes Rauschen und wird vom Zwitschern der Vögel überlagert. Der rote Granitkies knirscht unter den Füßen. Manchmal dringen die gedämpften Schritte von anderen Spaziergängern durch die Hecke. Zu sehen ist niemand. Die 20-minütigen Flaniermeilen im Parc de la Distance schaffen etwas Rares inmitten der urbanen Geschäftigkeit: Zeit und Raum für eine kurzweilige Abgeschiedenheit, für innere Einkehr oder einfach für ein bisschen Bewegung in der Natur.
Neu-Kalibrierung des öffentlichen Raums
Der Entwurf für den abstandstauglichen Park stammt vom österreichischen Architekturbüro Studio Precht und kam zu einer Zeit, in der Social Distancing den öffentlichen Raum neu zu kalibrieren schien.
Während die berühmten Wiener Bundesgärten wie Schönbrunn und Belvedere zu Beginn der Pandemie für die Öffentlichkeit geschlossen waren, musste neuer Raum für die nötige Bewegung der Menschen im Freien her.
Dort, wo Gehsteige schmal und Grünräume rar sind, hatte die Stadtregierung temporäre Begegnungszonen eingerichtet. Also Straßen, die vorübergehend für Fußgänger geöffnet waren, während Autos weiter im Schritttempo fahren durften. An einen Spaziergang im Park kam dieser Kompromiss allerdings nicht heran.
Distanz als Design-Prinzip
Doch wie kann ein Park aussehen, der das Abstandhalten der Menschen untereinander zum Design-Prinzip erhebt? Und wie kann er auch nach der Pandemie noch seine Gültigkeit haben? Diesen Fragen sind die Architekten Fei Tang Precht, Chris Precht und Andreas Stadlmayer nachgegangen. Das Ergebnis ist eine Konzept-Studie für eine ganz neue Art von Grünraum, die das Architekturbüro für ein brachliegendes Grundstück in Wien erstellt hat.
Wir haben uns gefragt, was die Lehre aus einem Raum wie diesem sein kann, was davon auch nach der Pandemie noch von Wert sein wird.
Chris Precht, Architekt
Auch wenn der Parc de la Distance zu physischer Distanz anregt, erhebt er die menschliche Berührung zum übergeordneten ästhetischen Element. Die parallel geschwungenen Gehwege, die Besucher durch die hügelige Landschaft führen, haben die Form eines Fingerabdrucks. Eine Metapher, die die auferlegte soziale Isolation zur zwischenmenschlichen Sache erklärt.
Barock- und Zen-Garten lieferten Inspiration
Jeder Gehweg hat ein Tor am Eingang und eines am Ausgang, das signalisiert, ob die Strecke gerade benutzt wird oder frei ist. Die parallelen Wege liegen einen sicheren Abstand von 2,4 Meter voneinander entfernt. Räumlich getrennt sind sie durch eine 90 Zentimeter breite Hecke.
Die strenge Form der Anlage ist an französische Barockgärten angelehnt. Inspiration für die konzentrischen Wege lieferten aber auch Zen-Gärten. Die geschwungenen Hecken ähneln „Rechenspuren, die kreisförmig um Ecksteine gezogen sind“, zieht Precht einen Vergleich zur japanischen Gartenkultur heran.
Konzept ohne Ablaufdatum
Das Konzept für die innerstädtische Flaniermeile hat, im Gegensatz zur Krise, kein Ablaufdatum. Auch wenn die Pandemie den Anstoß zur Studie gegeben hat, so sollte der Park auch in Zukunft seine Berechtigung haben.
Wenn diese Pandemie uns etwas gelehrt hat, dann die Einsicht, dass wir mehr Rückzugsräume brauchen.
Chris Precht, Architekt
„Wir haben uns gefragt, was die Lehre aus einem Raum wie diesem sein kann, was davon auch nach der Pandemie noch von Wert sein wird“, erklärt Architekt Chris Precht und beantwortet auch gleich seine rhetorische Frage. „Nach der Pandemie dient der Park dazu, dem Lärm und dem Trubel der Stadt zu entkommen und eine Weile für sich zu sein. Ich habe in vielen Städten gelebt, aber alleine war ich in der Öffentlichkeit nie. Ich denke, das ist eine seltene Qualität.“
Plädoyer für mehr städtische Grünräume
Die Distanz schaffe gleichzeitig auch eine Verbindung, nämlich die zu sich selbst. „Manchmal muss man sich entfernen, um ganz verbunden zu sein“, postuliert Precht ein spirituelles Paradoxon. Um Stadtbewohnern diese Erfahrung zu ermöglichen, sollen wieder vermehrt Pflanzen, Parks und Wildnis in den Städten Einzug halten.
Vorerst ist der Parc de la Distance nur ein Vorschlag für ein ungenutztes Areal in Wien und der Ruf der Architekten nach mehr „Real Escape statt Real Estate“ in der Stadt. Precht, der zuvor mit The Farmhouse ein Urban-Gardening-Modell für Fortgeschrittene lieferte, sieht im einsamen Flanieren Zukunftspotenzial: „Wenn diese Pandemie uns etwas gelehrt hat, dann die Einsicht, dass wir mehr Rückzugsräume brauchen.“
Text: Gertraud Gerst
Renderings: Studio Precht