Freilichtmuseum für Lingnan-Bauten
Das New Yorker Architektur- und Design-Büro other projects erneuert behutsam ein 600 Jahre altes Dorf in China. Die Traditionen sollen unter anderem mit einem Kulturzentrum bewahrt werden.
Es ist wie eine Zeitreise: Um 600 Jahre zurück in die Vergangenheit. Dabei ist auch in China die Zeit nicht stillgestanden. Seit dem Einsetzen der wirtschaftlichen Reformperiode in den 1980er Jahren unterliegen die Städte im Reich der Mitte einem beschleunigten Modernisierungsprozess – fast so als wollten sich die Städte amerikanischer als die Cities und Skylines in den USA selbst präsentieren. Und China hält ohnehin den Rekord: Die größte „Stadt” der Welt heißt Chongqing und liegt im Südwesten des Landes. Mehr als unfassbare 31 Millionen Menschen leben dort.
Glitzernde Bürotürme, gewagte Wohnwolkenkratzer, aber auch eine explodierende Massenmotorisierung mit den entsprechenden mehrspurigen Fahrbahnen sowie die Schaffung neuer, auch industrieller Cluster oder Finanz-Zentren (etwa Pudong in Shanghai) prägen das Gesicht dieser (Satelliten-)Städte. Und auch die Lebensumstände der Bevölkerung – Stichwort Smog.
Daneben aber gibt es sie noch: Städte wie aus einem Traum von vor langer Zeit. Mit Strukturen und Häusern von vor vielen Jahrhunderten. Zu schön, um sie in einen dieser Moloche zu verwandeln. Umso mehr braucht es ein sehr behutsames Vorgehen, will man moderne Akzente setzen.
Gangtou: Freilichtmuseum für Lingnan-Bauten
Und so schlägt das in New York ansässige multidisziplinäre Studio other projects den Bau eines Kulturhauses in dem 600 Jahre alten Dorf Gangtou im ländlichen China vor. Der historisch bedeutsame Ort liegt im Huadu-Distrikt in Guangzhou.
Er umfasst gut erhaltene Gebäude aus der Ming- und Qing-Dynastie und aus der Zeit der Republik. Zu diesen Bauwerken gehören unter anderem Ahnentempel, alte Brücken und Häuser. Das macht Gangtou zu einem „Freilichtmuseum der Lingnan-Architektur”. Mit dieser reichhaltigen Geschichte versucht das Dorf, sich als Ziel für Kunst, Kultur und Kulturerbe neu zu erfinden.
China sucht angesichts der rasanten Urbanisierung nach neuen Möglichkeiten, um die Kluft zwischen Land und Stadt zu überbrücken. Da die Urbanisierung aber auch vor ländlichen Strukturen nicht Halt macht, verschwimmt die Kontur dessen, was es bedeutet, Dorfbewohner zu sein, immer mehr, meint man bei other projects. „Landwirtschaftliche Flächen und ländliche Dörfer werden mitunter von jeglicher historischer oder kultureller Charakteristik bereinigt”.
Tief in historischen Vorbildern verwurzelt
Um diese Kluft zu überwinden, sei es von entscheidender Bedeutung, Traditionen und Merkmale der ländlichen Lebensweise zu „destillieren” und zu bewahren. other projects stützt sich dabei stark auf die vorherrschende Bau-Typologie des Sanheyuan. Das ist eine historische Art von Residenz, wie sie früher in ganz China und Taiwan verbreitet war. Sanheyuans ähneln einem Dreiseithof. Sie ähneln damit nebenbei bemerkt ein wenig dem chinesischen Schriftzeichen für Chinesisch.
Aus dem im traditionellen Sanheyuan eingebetteten kulturellen und philosophischen Denken lernen wir und extrahieren die Prinzipien, um sie auf unseren Entwurf anzuwenden.
other projects
Der Entwurf für das Kulturhaus Gangtou von other projects sieht die umfassende Erweiterung der ländlichen Strukturen um Kultur-, Freizeit- und Bildungsangebote vor. Der öffentliche Raum wird so auf unterschiedliche Weise neu belebt. Das traditionelle Dorf soll als kulturelles Erbe mit Kunst und Kultur jüngeren Datums kombiniert werden.
Vom Anliegen und von der Aufgabe her ähnelt das Projekt Kulturhaus Gangtou der von Sir David Adjaye entworfenen Thabo Mbeki Presidential Library in Johannesburg als Ort für kollektives afrikanisches Bewusstsein.
Ergebnis von other projects Arbeit ist eine Architektur, die visuell zeitgemäß ist – aber konzeptionell tief in historischen Vorbildern verwurzelt ist.
Interessantes Spannungsfeld zwischen öffentlich und privat
Es gibt Pavillons und Vordächer, die von Außenwänden begrenzt werden und so einen intimen Rahmen schaffen. Der Wechsel zwischen Innen- und Außenräumen, die Erweiterung des Außenraums in den Innenraum, die privat-öffentliche Organisation der Formate und Programme bieten ein interessantes Spannungsfeld aus öffentlich und privat.
Lebensweise mit den Besuchern teilen
Die Kombination aus bestehenden traditionellen Gebäuden und neuen „Eingriffen” ergibt eine reichhaltige Sammlung von Raumtypologien. Die Verschmelzung von Kultur-, Freizeit- und Bildungsprogrammen und dem öffentlichen Raum ermöglicht es den Dorfbewohnern, ihre Kultur zu zeigen und ihre Lebensweise mit den Besuchern zu teilen.
Das Gangtou-Kulturhaus ist damit eine Einladung sowohl an Wissenschaftler und Künstler als auch an touristische und einheimische Besucher, die einzigartige Lingnan-Kunst und Architektur kennenzulernen. Es umfasst eine Ausstellungshalle, ein Teehaus, ein Lernzentrum, Einzelhandel und Gästehäuser.
other projects hat dabei selbstredend auf lokale Materialien und traditionelle Formen, wie sie in kantonalen Dörfern üblich sind, zurückgegriffen. Die neuen Strukturen wurden in Beton ausgeführt und mit einer grauen Ziegelfassade verkleidet. Die Vordächer, Türen und Rahmen sind mit Cortenstahl verkleidet, wie ein Echo der Farbe der roten Ziegel und Tondachziegel der benachbarten Gebäude.
Als hommage an die baulichen Traditionen ist das neue Gebäude mit einer steilen Dachform konstruiert. Sie zeigt an den Seitenwänden die Silhouette eines Giebels im Stil eines „Topfohrs”.
Text: Linda Benkö
Visualisierungen/Fotos: other projects, wikimedia, Pjt56