Öko-Architektur, die Wohnglück schafft
„Archibiotekt“ Vincent Callebaut ist berühmt für futuristische Entwürfe, die ganz im Zeichen von Umweltschutz und Lebensfreude stehen. Mit dem grünen Wohnturm „Tao Zhu Yin Yuan“ in Taipeh nähert sich jetzt ein spektakuläres Beispiel seiner Öko-Architektur der endgültigen Fertigstellung.
Geht es um aufsehenerregende Projekte, hat Vincent Callebaut den Dreh heraus. Schließlich wirken Entwürfe wie sein „Paris 2050“ optisch oft wie Science-Fiction. Ein erster Eindruck, von dem man sich nicht täuschen lassen sollte. Denn die Öko-Architektur des „Archibiotekten“ ist zwar kompromisslos zukunftsorientiert. Aber sie ist auch umsetzbar und wohldurchdacht. Aktueller Beweis dafür ist der grüne Turm „Tao Zhu Yin Yuan“ in Taipeh, der demnächst endgültig fertig wird: Ein rundum nachhaltiger, energieautarker Neubau mit spektakulär gedrehter Form. Dieser soll zwar Aufmerksamkeit schaffen, jedoch nicht bloß in eigener Sache. Denn was Callebaut erreichen will, ist von weit größerer Bedeutung.
Aktiv gegen den Klimawandel
Der belgische Meister will Gebäude schaffen, die dem Klimawandel aktiv entgegenwirken. Zum Wohl des Planeten, der Natur und – nicht zuletzt – der Menschheit, die ohne die Erstgenannten keine Zukunft hat. Ob es, wie beim historischen Kurzentrum von Aix-les-Bains, um Umgestaltung geht, oder um Neubau: Callebauts Büro lässt grüne Paradiese wachsen. Sein aktuelles Werk in Taipehs XinYi Development District hat vor allem die Förderung CO2 absorbierender Öko-Architektur zum Ziel.
Das außergewöhnliche Projekt folgt Fans Li-Philosophie und „denkt“ die Welt als Gemeinschaft. „Es nimmt Veränderungen vor, die nicht nur uns selbst, sondern auch den Nachbarn oder sogar der ganzen Welt Vorteile bringen“, führt Vincent Callebaut aus. Sein architektonisches Konzept: Ein energieautarkes Gebäude, dessen Energie elektrisch, thermisch sowie alimentär ist.
Angesichts der Krise der globalen Erwärmung und des Klimawandels müssen alle Unternehmen die Regierungen drängen, Anreizprogramme zu entwerfen, die weltweit zu Kohlenstoffdioxid-Reduktion in Industrie, Transport und täglichem Leben führen.
Architekt Vincent Callebaut
Das Design des Turms ist von der Struktur in der Doppelhelix der DNA inspiriert. Also quasi vom „Ursprung des Lebens“. Jede Doppelhelix wird im Projekt durch zwei Wohneinheiten dargestellt, die eine volle Ebene bilden. Von der Basis bis zur Spitze bietet das Exempel zukunftsorientierter Öko-Architektur 20 bewohnte Ebenen.
Für die um 90 Grad „verdrehte“ Form des eleganten „Tao Zhu Yin Yuan“ nennt Callebaut vier gute Gründe. Punkt eins ist die perfekte Integration ins Nord-Süd-Pyramidenprofil des Gebäudevolumens. Dieses wird durch die von Taipeh geforderten städtebaulichen Rücksprünge definiert. Punkt zwei: Das Design ermöglicht kaskadenförmig angeordnete Freiluftgärten, die nicht Teil der Floor Area Ratio sind. So kann die bepflanzte Balkonfläche die geforderten zehn Prozent überschreiten. Und jede Einheit darf sich über 165 Quadratmeter „Himmelsgarten“ freuen.
Wohntraum für „Morgen“
Der Lebensqualität der Nutzer dient auch der dritte Grund: Das Design ermöglicht grandiose Panoramaaussicht, indem es Querblicke vervielfacht. Vor allem in Richtung des nahen, berühmten „Taipei 101“ Wolkenkratzers. Das vierte Plus der „Drehung“: Aus einer flexiblen standardisierten Ebene wird eine progressive Geometrie mit Kragsteinen. Damit vermeidet das Design indiskrete Sichtachsen und schützt die Privatsphäre der Bewohner.
Jedes Stockwerk ist um 4,5 Grad im Uhrzeigersinn gedreht, der Turm bis obenhin also um die genannten 90 Grad. Dadurch „verwandelt“ sich die Form des Hochhauses je nach Blickwinkel. Seine vier Hauptprofile sind Pyramide, Kreuz, umgekehrte Pyramide und Ellipse.
23.000 Bäume und Pflanzen
Das imposante Meisterwerk moderner Öko-Architektur strotzt vor lebendigem Grün. Auf allen Freiflächen werden Bäume gedeihen. Im 6.600 Quadratmeter großen Garten im Erdgeschoss, auf Balkonen und Terrassen prangen rund 23.000 Bäume, Sträucher und Pflanzen. Der gesamte Umfang des Geländes ist mit hohen Hecken bestückt. Im künstlerischen Park wachsen etwa 100 Lauben. Im Sockel wird obendrein ein Gehweg mit öffentlichem Grün gestaltet.
Derzeit werden die Gärten bepflanzt und Wasserfälle gebaut. Auch am Interieur der öffentlichen Bereiche wird noch gefeilt. Doch im zweiten Halbjahr 2021 sollen alle Arbeiten abgeschlossen sein. Endlich. Denn der ursprüngliche Termin der endgültigen Fertigstellung liegt mehr als ein Jahr zurück.
„CO2-Fresser“ der Extraklasse
Mit einer Grünbedeckung von 246 Prozent erreicht die jährliche Kohlenstoffdioxid-Absorption des umweltfreundlichen Wolkenkratzers etwa 130 Tonnen. Ein Wert, der die lokalen Vorschriften ums fast Fünffache übertrifft. Um ihn zu steigern, wurden Baumarten mit hohem CO2-Absorptionsvolumen gewählt. Dies verbessert und bewahrt die Luftqualität. Zugleich macht es das Gebäude zu einem rund ums Jahr farbenfrohen städtischen „Waldpark“.
Die üppige Bepflanzung fungiert auch als „Schalldämpfer“ gegen urbanen Lärm. Außerdem sorgt sie im Sommer für Kühlung und Frischluft, im Winter für Wärme und Belüftung.
Nachhaltig bis ins Detail
Callebauts komplexe Öko-Architektur geht allerdings noch um vieles weiter: Der Turm verfügt über natürliche Lüftungskamine, die die Luft im Inneren des zentralen Kerns filtern. Regenwasser wird gesammelt und genutzt. Drahtlose Monitorsteuerung der LED-Beleuchtung versteht sich von selbst. Ebenso, wie Solar- und Windkraft. Alles mit dem erklärten Ziel, Energie zu sparen und der Erderwärmung entgegenzuwirken.
Vincent Callebauts Pariser Büro bezeichnet „Tao Zhu Yin Yuan“ als „Anti-Smog-Turm“. Vor Ort heißt das Hochhaus auch „Agora Garden Tower“. Wie man es auch nennen mag: Ein Beispiel famoser Öko-Architektur ist es in der Tat. Es demonstriert, wie erfolgreich sich innovative Wissenschaft, bioklimatische passive Systeme und proaktive Technologien kombinieren lassen.
Ein Turm zum Durchatmen
Da wäre beispielsweise der vertikale Schornstein im zentralen Kern, der Luftverschmutzung eliminiert: Luft wird am Boden angesaugt, indem sie im speziell angepassten Glasgewächshaus an der Basis erhitzt wird. Dann passiert sie reinigende Filter, ehe sie oben freigesetzt wird. Die Beheizung an der Basis erfolgt mittels Solarenergie.
Ein überraschender Gedanken-„Dreh“ liegt auch der Konstruktion des Turms zugrunde. Denn die Statiker ließen sich von der Körperstruktur eines Schifahrers inspirieren: Zentraler Kern des Bauwerks ist der menschliche Körper. Die Fünf-Meter-Fachwerkstruktur über 21F entspricht seinen Armen. Die Mega-Säulen an beiden Seiten repräsentieren die Skistöcke. Ein hängendes Tragwerks- und ein Vierendeel-Fachwerksystem übertragen das gesamte Gewicht über die „Arme“ auf den „Körper“ und zum Fundament.
Bebensichere Öko-Architektur
„Tao Zhu Yin Yuan“ ist erdbebensichere Öko-Architektur. Ein für Kernkraftwerke angewandtes seismisches Konzept wurde integriert. Die Spitzenbodenbeschleunigung beträgt 400 gal. Das Schockisolations-Design wurde von EPS Inc. entwickelt. Es kann dem stärksten Beben der Klasse 7 standhalten. Laut Architekt ganz ohne Dehnungsbruch.
Stabile Zukunft
Damit übertreffen die Werte jene der höchsten, bei einer Erdbeben-Wiederkehrperiode von 2500 Jahren spezifizierten Bemessungen. Die Stabilität des Neubaus sollte demnach ebenso lang gegeben sein, wie jene der Erdoberfläche.
Weil das Innendesign des Hochhauses ohne Säulen auskommt, bieten die Fenster Top-Aussicht. So, dass die Bewohner auch die hängenden Gärten noch besser genießen können.
Die Planer haben viel Aufwand betrieben, damit das pralle Grün langfristig nie an Pracht verliert: Sonnenlicht- und thermische Analysen, Wind- und Regentests standen auf dem Programm. Sogar Taifun und Starkregen wurden simuliert, um zu prüfen, ob die Turm-Vegetation Wetter-Extreme unbeschadet übersteht.
Rat von Frau „Doktor Baum“
Obendrein konsultierte Vincent Callebauts Team die japanische „Baum-Doktorin“ Zhang Fong-Chun. Sie bestimmte die ideale Wahl und Anordnung der Gewächse. Die Arbeit der Spezialistin passt gut zur Öko-Architektur des preisgekrönten Baukünstlers. Schließlich widmet sich „Dr. Baum“ der erfolgreichen Koexistenz von Natur und Stadt. Ihr gefragtes Wissen sorgt dafür, dass zu Klima und Standort passende Bäume zum Einsatz kommen.
Beste Voraussetzungen für langlebigen Pflanzenwuchs sind jedenfalls geschaffen. Das Tragwerk ist auf die Belastung zugeschnitten. Die überdachte Tiefe der Balkone wurde berücksichtigt. Leitungsführung und Entwässerungssystem sind in die Doppelböden integriert. Und spezielle Technologien sichern, dass die Vegetation bestens gepflegt, gewartet und vor Wurzelschäden geschützt werden kann.
„Tao Zhu Yin Yuan“ ist darauf ausgerichtet, Wohlbefinden und Gesundheit der Bewohner zu verbessern. So sind alle innen verwendeten Materialien umweltfreundlich, biobasiert und recyclebar. Die doppelte Glasfassade wird zur natürlichen Belüftung und Klimatisierung genutzt. Doppeldecker erlauben flexible Raumgestaltung.
Umbauten oder Wartungen können ablaufen, ohne die Nachbarn zu stören. Preisgünstig wird das Wohnen im neuen Turm allerdings eher nicht sein: Pro Etage sind nur zwei Apartments mit je 550 Quadratmetern Fläche vorgesehen.
Zukunftschance Öko-Architektur
Dass „Archibiotekt“ Callebaut beim Projekt auf dem 8.160 Quadratmeter großen Areal in Taipeh penibel auf Nachhaltigkeit geachtet hat, liegt auf der Hand. Seine Öko-Architektur steckt voll geschickter Lösungen, die Ressourcen schonen, zugleich aber Komfort versprechen. So läuft zum Beispiel das Regenwasser-Recycling über Wasserfälle im Erdgeschoss, die mit Garten-Sprinklern verbunden sind.
Ein Gebäude sollte ein Lied der Erde sein und mit der Umwelt koexistieren.
Architekt Vincent Callebaut
Um all seine Ideen bestmöglich zu realisieren, hat Vincent Callebaut viele internationale und lokale Spezialisten beigezogen. Das Ergebnis – der nun bald fertige Wohnturm „Tao Zhu Yin Yuan“ – zeigt einmal mehr: Es lohnt sich, die Umsetzung unkonventioneller Projekte zu wagen. Auch wenn sie aufs Erste so futuristisch und „verdreht“ wirken wie jene des visionären belgischen Star-Architekten.
Text: Elisabeth Schneyder
Bilder: Vincent Callebaut Architectures