144 Dörfer zählt der Bezirk Nokha in Rajasthan, und nicht jedes hat eine Schule. Sanjay Puri Architects schufen deshalb das Nokha Village Community Centre, das sich wie eine grüne Insel aus der Wüste erhebt, und in dem die Kultur des Lernens sprießt.

In Indien ist die Kluft zwischen Stadt und Land ein riesiger Canyon. Vor allem, was Bildungschancen angeht. Immer wieder versucht die Regierung, ihn zu überbrücken – etwa mit dem Programm „Padhe Bharat, Badhe Bharat“. Im Rahmen der Kampagne erhalten staatliche Schulen unter anderem einen jährlichen Zuschuss für den Unterhalt von Bibliotheken. Mit wachsendem Erfolg. So betrug der Alphabetisierungsgrad in Indien im Jahr 2022 rund 76 Prozent. 2006 waren es nur 63 Prozent gewesen.

Ungleiche Chancen

Dennoch liegt man damit noch deutlich unter dem weltweiten Durchschnitt. Zudem sind die Zahlen lediglich Mittelwerte. Denn während die Alphabetisierungsrate in Mumbai bei 91 Prozent liegt, brechen in ländlichen Gebieten immer noch viele Schülerinnen und Schüler ihre Ausbildung aufgrund familiärer Verpflichtungen frühzeitig ab. Vor allem Frauen. Nur etwa Zweidrittel der Über-15-Jährigen können Lesen und Schreiben.

Nokha Village Community Centre; Rajasthan, Indien;Sanjay Puri Architects; Vogelperspektive; Dachgärten
Das Nokha Village Community Centre schraubt sich in grünen Spiralen aus dem Wüstenboden von Rajasthan.

Besonders schlecht bestellt um die Lesefähigkeit ist es im nordwestlichen Bundesstaat Rajasthan an der Grenze zu Pakistan. Hier kristallisierte sich heraus, dass es mit Schulbibliotheken – sofern überhaupt vorhanden – allein nicht getan ist. Im Distrikt Bikaner zeigten Studien zu den derzeitigen Einrichtungen jedenfalls die Notwendigkeit auf, in den ländlichen Gemeinden eine Kultur des Lernens für alle Altersgruppen zu etablieren. Und diese Kultur, das war schnell klar, braucht eigene Räume, in der sie wachsen kann.

Bildung ist ein Schlüssel, um Armut und Hunger zu reduzieren, die Gesundheit zu verbessern, Gleichberechtigung zu ermöglichen, den Planeten zu schützen und vieles mehr.

UNESCO-Weltbildungsbericht

Mit dem neuen Nokha Village Community Centre wurde ein solcher Raum geschaffen. Täglich empfängt das Gemeindezentrum rund 400 Besucherinnen und Besucher jeden Alters. Sie kommen aus dem Dorf Nokha und 143 benachbarten Weilern, um dort zu lesen und zu lernen oder um Kulturveranstaltungen und Aufführungen zu besuchen. In den Pausen genießen sie die Aussicht von den geneigten Dachgärten. Tags wie nachts. Denn die begrünten Terrassen eignen sich auch hervorragend für Sternbeobachtungen.

Nokha Village Community Centre; Rajasthan, Indien;Sanjay Puri Architects; Amphitheater; Innenhof
Der nach Norden offene Innenhof dient als Bühne für Kulturveranstaltungen.

Nokha Village Community Centre; Rajasthan, Indien;Sanjay Puri Architects; Amphitheater; Innenhof; Vogelperspektive
Von drei Seiten wird er vom eliptischen Hauptgebäude des Gemeindezentrums umschlossen.

Das elliptische Hauptgebäude aus regionalem Sandstein, das sich sanft in die umgebende Wüstenlandschaft einfügt und sich doch wie eine grüne Oase aus ihr erhebt, sieht aus wie von einer KI generiert. Entworfen wurde es aber vom renommierten Architekturbüro Sanjay Puri Architects aus Mumbai. Und das Projekt ist ein Vorzeige-Beispiel dafür, wie durchdachte Architektur weitläufige Gemeinschaftsräume schaffen kann, ohne viel Grundfläche zu benötigen.

Wenig Grundfläche, viel Platz

Auf einer bebauten Fläche von nur 800 Quadratmetern windet sich das Zentrum wie ein Sandwirbelsturm von der nordöstlichen Ecke nach oben. An der nordwestlichen Ecke erreicht das Volumen seinen Höhepunkt und umschließt einen nach Norden ausgerichteten offenen Innenhof mit 2.500 Quadratmeter, der wie ein Amphitheater angelegt ist. Insgesamt kommt man so bei Baukosten von rund einer Million Euro auf eine Bruttogeschossfläche von 1.200 Quadratmeter, zuzüglich des großen Auditoriums im Freien.

Nokha Village Community Centre; Rajasthan, Indien; Sanjay Puri Architects; Sandsteinwände; Durchbruch; Schattenspiele; Bibliothek
Die traditionellen, durchbrochenen Sandsteinfassaden sorgen für schöne Schattenspiele im Lesebereich der Bibliothek.

Das gewundene Hauptgebäude geht in einen Garten mit zwei unterschiedlichen Neigungen über, der als Erholungs- und Versammlungsraum genutzt werden kann. Unterhalb des Gartens, an der niedrigeren Ostseite, befindet sich ein kleines Museum. An der höheren Westseite wurde eine Bibliothek eingerichtet. Sie unterstützt alle Dorfschulen in der Region, von denen die meisten noch keine eigenen Büchereien haben. Mit dem zusätzlichen Angebot digitaler Medien sorgt sie zudem dafür, dass die Schüler jederzeit Zugang zur Lektüre haben, ohne schwere Bücher durch die Gegend zu schleppen oder darauf warten zu müssen, dass ein bestimmtes Werk vom Entleiher zurückgebracht wird.

Licht rein, Hitze raus

In einer Region, in der die Sonne acht Monate im Jahr scheint und die Tagestemperaturen 35 bis 40 °C erreichen, war es entscheidend, die Hitze draußen zu halten und für die Energieeffizienz doch genügend natürliches Licht ins Innere zu bringen. Chefarchitekt Sanjay Puri erreichte dieses Ziel durch mehrere Kunstgriffe: „Die eiförmige Bibliothek ist zum Beispiel mit durchbrochenen Sandsteinwänden verkleidet, die aus der traditionellen Architektur Rajasthans stammen und im Laufe des Tages für spannende Schattenmuster sorgen.“ Das Museum wiederum wird indirekt durch schalenförmige Vertiefungen in den Bermen des Dachgartens beleuchtet. Die Südseite ist zusätzlich von einer grasbewachsenen Erdberme umgeben, um dem Wüstenklima Rechnung zu tragen. Regenwassernutzung und Wasserrecycling machen das Gebäude und seine nach Norden ausgerichtete Konstruktion zusätzlich nachhaltig.

Nokha Village Community Centre; Rajasthan, Indien; Sanjay Puri Architects; Sandsteinwände; Durchbruch; Nachtansicht; Lichtspiele
Auch nachts sind die durchbrochenen Fassaden ein Hingucker, wenn man nicht gerade auf der Dachterrasse Sterne bestaunt.

Sanjay Puri Architects ist bekannt für solche an das örtliche Klima bestens angepasste Bauten. Bei aller Effizienz hält man aber auch ein lokal sensibles Designethos hoch und gestaltet die Entwürfe stets kontextabhängig. Beispiele hierfür sind die Rajasthan School in Nagaur, die Anleihen beim Stil der alten Städte der indischen Region nimmt. Oder The Forest, ein Büroturm mit einem „gestapelten Wald“ in der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo. Für ihre Designs wurden Sanjay Puri Architects bereits mehrfach ausgezeichnet und unter anderem von Architizer New York in die Liste der 130 besten Architekturbüros der Welt aufgenommen.

Village Community Centre: gewohnt ungewohnt

Im Falle des Nokha Village Community Centre umfasst der ganzheitliche Ansatz auch die Verwendung lokaler Materialien und regionaler Handwerkskunst. Für die Einheimischen ist die Architektur deshalb gleichzeitig vertraut und aufgrund des Designs auch ungewohnt. Vertraut, weil sie wie ein traditionelles Hofhaus gestaltet ist. Ungewohnt, weil es hier – anders als in den ländlichen Wohngebieten – neben dem gewundenen Hauptgebäude auch einen linearen Komplex mit Cafeteria, Toiletten, Geschäften und Parkplätzen gibt. Der Block flankiert den Eingang auf der Nordseite, erleichtert die Bewirtung großer Menschenansammlungen. „Gleichzeitig sorgt dieser Ansatz dafür, dass das Gebäude auch die lokale Wirtschaft unterstützt und ein Gefühl der Zugehörigkeit und Wertschätzung schafft“, erklärt Sanjay Puri.

Nokha Village Community Centre; Rajasthan, Indien; Sanjay Puri Architects; Museum
Im Nokha Village Community Centre ist auch ein Museum zur Regionalgeschichte untergebracht.

Nokha Village Community Centre; Rajasthan, Indien; Sanjay Puri Architects; Lesesaal
Der Lesesaal steht allen Gemeindemitgliedern offen – zum Lernen oder für Veranstaltungen.

Apropos Wertschätzung: Das Nokha Village Community Centre ist zugleich auch eine Gedenkstätte. Sie soll an den Vater der Bauherren erinnern, Padmaramji Kularia. Über Jahrzehnte hatte er sich stets für die arme Dorfbevölkerung in der Region starkgemacht. Und er war überzeugt, dass die Kluft zwischen Stadt und Land nur über Orte überbrückt werden kann, die Menschen jenseits der Schulen zu lebenslangem Lernen einladen und eine Gemeinschaft fördern, in der Chancen für alle gedeihen.

Das Gemeindezentrum wird einen Weg zu Bildung und Chancengleichheit ebnen – für diese Generation, aber vor allem auch für künftige.

Sanjay Puri, Architekt und Gründer von Sanjay Puri Architects

Das neue Zentrum mag nicht wie eine Brücke aussehen. „Aber es wird einen Weg ebnen – für diese Generation, aber vor allem auch für künftige“, ist Sanjay Puri überzeugt.

Text: Daniela Schuster
Bilder: Vinay Panjwani

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