So upcycelt man ein Hochhaus
Das dänische Architekturbüro 3XN betreibt unter dem Namen GXN eine eigene Firma für grüne Innovation. Kim Herforth Nielsen und Kåre Poulsgaard sprechen im Interview über Behavioural Design, den Markttreiber CO2 und ihr radikales Hochhaus-Projekt in Sydney.
Ihre Büros liegen auf einer Insel des Kopenhagener Stadtteils Holmen, direkt am Kanal. Hier, in den denkmalgeschützten Bootshäusern am Kanonbådsvej, wurden früher Kanonenboote gebaut, bevor die Anlage zur hippen Office-Location umgebaut wurde. „Das sind alles Holzhäuser, zum Teil über 200 Jahre alt“, sagt Kim Herforth Nielsen. „Da soll noch jemand sagen, dass Gebäude aus Holz nicht lange halten.“
Gemeinsam mit zwei Kollegen hat er 1986 das Architekturbüro 3XN gegründet. Weil sich alle denselben Nachnamen teilen, leiteten sie daraus den Firmennamen ab. „3XN, dreimal Nielsen“, lüftet der Chefarchitekt das Rätsel. Seither steht der Name für innovative, nachhaltige Architektur, die gemäß des eigenen Design-Leitsatzes „Form follows Behaviour“ den Menschen und sein Verhalten in den Mittelpunkt stellt.
Ein Paradebeispiel ihres Schaffens findet man knapp drei Kilometer weiter nördlich, am Tor zum neuen Stadtentwicklungsgebiet Nordhavn. Hier wurde 2013 die UN City eröffnet, eine sternförmige Landmark, die auch heute noch zu den nachhaltigsten Gebäuden Dänemarks zählt. Mit dem Entwurf für das Naturkundemuseum in Shenzhen schaffen sie einen weiteren Superlativ auf der internationalen Bühne der Architektur.
Mit der Gründung der grünen Denkfabrik GXN im Jahr 2007 setzten sie dazu an, die Architektur zukunftsfähig zu machen. „Von uns gesammelte Forschungsdaten fließen zurück in die Designarbeit von 3XN“, erklärt GXNs Innovationschef Kåre Poulsgaard den Synergieeffekt.
Wie kam es zu der Entscheidung, die grüne Forschungsabteilung GXN vom restlichen Unternehmen zu trennen?
Kim Herforth Nielsen: In erster Linie ist es mit einem separaten Unternehmen einfacher, die Finanzen zu kontrollieren. Am Anfang war es ein Riesen-Investment, aber schon nach wenigen Jahren war GXN finanziell unabhängig. Heute verdienen wir damit Geld. GXN beschäftigt 20 Forscher, und ich glaube nicht, dass es viele andere Architekturbüros gibt, die ihre eigene Forschungsabteilung haben.
Wir haben ein bestehendes Hochhaus upgecycelt. Es war ein Akt radikaler Nachhaltigkeit.
Kim Herforth Nielsen, Gründer von 3XN/GXN
Welches Ziel verfolgt die Forschungsabteilung?
Kåre Poulsgaard: Manche Dinge sind im normalen Rahmen von Architekturprojekten schwer umzusetzen. Bei GXN haben wir die Möglichkeit, neue Ideen zu erforschen und neue Technologien auszuprobieren, was wir dann im größeren Maßstab in 3XN-Projekte einfließen lassen. Genau hier wird es spannend. Wir möchten sichergehen, dass wir mit unserer Arbeit etwas bewirken. Abgesehen von der beratenden Tätigkeit für 3XN arbeiten wir zur Hälfte an externen Forschungsprojekten zusammen mit Universitäten, neuen Tech-Startups und anderen Partnern.
Nielsen: Bei großen Investitionen wie Immobilien-Projekten sind Kunden in der Regel nicht sehr experimentierfreudig. Unsere Forschung von GXN hilft uns dabei Experimente zu wagen, weil wir unsere Entscheidungen besser begründen können. Wir können spannendere Architektur machen, weil wir mehr darüber wissen, was funktioniert und was nicht.
Sie vertreten den Design-Ansatz „Form follows Behaviour“. Können Sie das ausführen?
Nielsen: Wir entwerfen kein skulpturales Gebäude und bestücken es dann mit Funktionen, wir machen es genau umgekehrt. Ich denke, das Spannendste am Designen ist die Überlegung, was im und um das Gebäude herum passieren wird. Wie werden sich die Menschen in diesem Gebäude verhalten? Das ist die Frage, die wir uns vor jedem Designprozess stellen. Das Verhalten, das wir erreichen möchten, ist formgebend im Design. So können wir uns und unseren Kunden viel genauer erklären, warum es so und nicht anders aussieht. Denn das Design ist für die Menschen optimiert.
Poulsgaard: Ein Forschungsaspekt spielt hier auch mit hinein. Ich bin von meiner Ausbildung her Anthropologe, und als ich erfahren habe, dass die meisten Architekten nicht dazu kommen, ihre Gebäude nach Fertigstellung zu analysieren, war ich ein bisschen sprachlos, weil da so viel Information und Wissen brachliegt. Unser Ansatz bei 3XN und GXN ist es, die fertiggestellten Projekte daraufhin anzuschauen, wie das Design, die Ideen und Strategien wirken und wie die Menschen das Gebäude tatsächlich nutzen. Indem wir qualitative Daten sammeln und sie in den Designprozess rückführen, schließen wir die Feedback-Schleife und werden so zu besseren Designern.
Indem wir qualitative Daten sammeln und sie in den Designprozess rückführen, schließen wir die Feedback-Schleife und werden so zu besseren Designern.
Kåre Poulsgaard, Head of Innovation bei 3XN/GXN
Wo kommt bei diesem Konzept des Verhaltensdesigns die Nachhaltigkeit ins Spiel?
Nielsen: Nachhaltigkeit ist ein Bestandteil von allem, was wir machen. Wir betrachten die Sache immer ganzheitlich. Es geht nicht nur um Energie, Materialien und grüne Gebäude als solches, es geht auch darum, wie das Gebäude auf die Menschen darin und davor reagiert. Man kann ein Bauwerk schaffen, das zwar einen ökologischen Standard erfüllt, aber seine Funktion nicht. Deshalb versuchen wir beim Design alles mitzudenken. An das Verhalten zu denken ist eine andere Form der Nachhaltigkeit.
Das Ergebnis Ihres Ansatzes ist bisweilen sehr skulptural. Können Sie ein Beispiel nennen, bei dem die Nachhaltigkeit die Form bestimmt hat?
Herforth Nielsen: Das olympische Hauptquartier in Lausanne zum Beispiel. Beim Gebäude, ebenso wie beim Olympischen Komitee, geht es um Bewegung. Wir haben dabei informationsbasiert mit digitalem Design gearbeitet. Die ganze Fassade ist so geformt und optimiert, dass direkte Sonneneinstrahlung minimiert wird. Gleichzeitig gibt es drinnen viel Tageslicht und Ausblick nach draußen. Diese facettierte Fassade ist sehr nachhaltig. In der neuen LEED v4-Zertifizierung hat es 93 von 100 Punkten erhalten, damit ist das IOC-Gebäude bis dato das nachhaltigste der Welt.
Zeitgenössische Bauten – wie das Lemvig Klimatorium von 3XN – bieten im Innen- wie im Außenbereich öffentlichen Raum, und sogar als Teil der Fassade. Was sind die Überlegungen dazu?
Nielsen: Das ist genau unsere Philosophie, wenn wir von Architektur und Verhalten sprechen. Es geht darum, was ein Gebäude drinnen und draußen mit Menschen macht. Je großzügiger man mit der Umgebung sein kann, desto besser wird das Ergebnis sein, sowohl für das Gebäude selbst als auch für seine öffentliche Wahrnehmung. Wie wir sagen: Es gibt keinen Grund irgendetwas zu bauen, wenn es den Ort nicht besser macht.
Einige der „nachhaltigsten Gebäude“ standen zuletzt in der Kritik. Obwohl sie über die höchsten ökologischen Zertifizierungen verfügen, ist ihre Bilanz der verbauten Emissionen enorm. Wie denken Sie darüber?
Poulsgaard: Wir beobachten gerade, dass der Fokus auf verbauten Emissionen rasant zunimmt. Immer mehr Kunden verlangen, dass wir den Messwert in unser Design integrieren. Wir versuchen durch Design- und Materialentscheidungen den operativen und den verbauten Kohlenstoff zu reduzieren. Im Moment wird diese Nachfrage vom Markt bestimmt, der auf einen absehbar steigenden CO₂-Preis reagiert. Es gibt Großmieter und Developer mit dem Ziel, bis 2030 klimaneutral zu sein. Jeder in der Branche muss lernen, Emissionen zu reduzieren. Dieser Fokus wird sich in den kommenden Jahren weiter verstärken.
Es gibt keinen Grund irgendetwas zu bauen, wenn es den Ort nicht besser macht.
Kim Herforth Nielsen, Gründer von 3XN/GXN
Das heißt, der Markt ist den ökologischen Standards weit voraus?
Nielsen: Ja, das ist der Fall. In dieser Hinsicht entwickelt sich London gerade sehr rasant. Wir haben soeben eine Anfrage eines großen Developers bekommen und die erste Frage war: Was ist Ihre CO₂-Strategie? Das ist zum einen, weil sie ihre Klimaziele erfüllen müssen. Zum anderen, weil es diesbezüglich ein großes Bewusstsein der Mieter gibt. In London zeichnet sich gerade ein starker Trend hin zur Nachhaltigkeit ab. Letzten Endes wird diese Pandemie auch positive Entwicklungen nach sich ziehen, da wir Arbeitsplätze und Gebäude neu denken müssen.
Poulsgaard: Wir sehen einen Trend in Richtung hochwertiger Büros, ausgelöst durch die geänderten Bedürfnisse des Office-Marktes. Dabei sind Emissionen und Nachhaltigkeit für die Mieter Teil dieser Hochwertigkeit, zusammen mit Behaviour, zugänglichem Grünraum und mehr Frischluft.
Experten sagen, man muss über den gewohnten Zeitrahmen von Architekturprojekten hinaus denken. Wie weit kann und soll ein Architekt vorausdenken?
Poulsgaard: Ein Gebäude ist nicht fertig, wenn die Bauarbeiten abgeschlossen sind. Der Design-Zugang von 3XN beruht auf Langlebigkeit und Adaptierbarkeit, sodass ein Gebäude an unterschiedliche Nutzungen angepasst werden kann. Generell geht es darum, langfristiger zu denken, wie sich Verhalten, Materialien und künftige Bedürfnisse entwickeln. Wir können ein Gebäude kreislauffähig designen, sodass es wieder zerlegt und die Materialien wiederverwendet werden können. Zugleich müssen diese Informationen für künftige Generationen gesichert werden.
Nielsen: Wir arbeiten derzeit an Londons nachhaltigstem Hochhaus. Bei einem so großen Projekt vergehen sechs bis zehn Jahre bis es fertig ist. Für den Kunden ist es extrem wichtig, dass das Gebäude bei seiner Eröffnung am Puls der Zeit ist. Daher wurde auch GXN beauftragt, um einen Blick in die Zukunft zu werfen. Sie wollen wissen, wohin sich die Welt entwickelt. Bei GXN können wir sogenannte Futurologie-Reporte erstellen. Wir schultern diese Verantwortung großteils selbst, da es unser Design mitbestimmt.
Müssen wir die Immobilien-Entwicklung neu denken?
Nielsen: Wir müssen unser Verhalten ändern, aber das ist nicht unbedingt etwas Schlechtes. Es braucht neue Ideen, die zugleich mehr Qualität bringen. Wir schließen gerade unser erstes Hochhaus-Projekt in Sydney ab, den 205 Meter hohen Quay Quarter Tower. Wir haben ein bestehendes Hochhaus upgecycelt, indem wir auf die Struktur aufgebaut und die Nutzungsfläche verdoppelt haben. Es war ein Akt radikaler Nachhaltigkeit, die Betonstruktur zu erhalten, anstatt sie abzureißen und von vorne zu beginnen.
Generell geht es darum, langfristiger zu denken, wie sich Verhalten, Materialien und künftige Bedürfnisse entwickeln.
Kåre Poulsgaard, Head of Innovation bei 3XN/GXN
Sie haben Ressourcen gespart. Hat es auch Kosten gespart?
Nielsen: Ja, wir haben zugleich sechs bis neun Monate an Abbruch- und Bauzeit gespart, was mehreren Millionen Dollar entspricht. Es war also nicht schwer, den Kunden davon zu überzeugen. Allerdings war es ihm und den Maklern wichtig, während der Bauarbeiten den Neubau zu bewerben und weniger die Upcycling-Geschichte. Aber wenn man das Hochhaus jetzt betritt, ist natürlich vom alten Gebäude nichts zu sehen. Ganz abgesehen von der Nachhaltigkeit war diese Lösung auch sinnvoller, schneller und kostengünstiger.
Poulsgaard: Was wir brauchen, ist ein kultureller Wandel in der gebauten Umwelt. Wir müssen weg von der Beurteilung eines einzigen Parameters, nämlich Kosten und Nutzen, hin zu einer Vielzahl von Parametern, wie Kreislauffähigkeit, Emissionen, Wohlbefinden und gesellschaftlicher Mehrwert. Wenn wir diese von Beginn an in den Entscheidungsprozess miteinbeziehen, können die kreativen Köpfe beim Design zu Lösungen kommen, die auf mehrere Faktoren optimiert sind.
Als Teil des Netzwerks Circle House Lab arbeiten Sie daran, den Übergang in der Immobilienbranche zur Kreislaufwirtschaft voranzutreiben. Wie machen Sie das?
Poulsgaard: Circle House Lab sollte den Weg für einen branchenweiten Push in Richtung kreislauffähigen Bauens in Dänemark ebnen. Das Lab entstand aus Circle House, einem sozialen Wohnbaukonzept und Leuchtturmprojekt für kreislauffähiges Bauen. Es ist komplett nach dem Cradle-to-Cradle-Prinzip entworfen, sodass es ohne großen Wertverlust in seine Einzelteile zerlegt werden kann. Um dieses System produktreif zu machen, arbeiteten GXN und 3XN mit über 60 verschiedenen Partnern aus der Wertschöpfungskette zusammen. Jeder hat einen Teil des Puzzles. Wenn wir alle Teile neu zusammenfügen wollen, müssen sich alle an einen Tisch setzen und ihre Perspektive erläutern.
Circle House Lab arbeitet eng mit dem dänischen Normungsinstitut zusammen, um die Entwicklung neuer europäischer Standards für zirkuläres Bauen zu unterstützen.
Skandinavien ist ein Early Adopter des Ingenieur-Holzbaus. Warum ist das so?
Nielsen: Der Holzbau boomt nicht nur in Skandinavien, auch in Frankreich und der Schweiz. Wir bauen gerade den Tilia Tower in Lausanne, ebenfalls ein Hochhaus. Aber ich denke, wir haben in Skandinavien ein starkes Augenmerk auf Nachhaltigkeit. Dänemark hat selbst kaum Ressourcen. Die einzigen, die wir haben, sind die Entwicklung und der Verkauf von grünen Technologien. Dänemark verkauft Know-how, und in dieser Stoßrichtung müssen wir weitermachen.
Warum wird nicht alles aus Holz gebaut?
Nielsen: Holz hat natürlich seine Grenzen, aber es wird sich mehr und mehr durchsetzen. Wir haben gerade eine relativ große Produktion von Holzgebäuden in vielen verschiedenen Ländern. Aber man muss ganzheitlich denken, und es dort einsetzen, wo es Sinn macht. Wo dies nicht der Fall ist, muss man auf Stahl und Beton zurückgreifen. Man muss alles abwiegen.
Poulsgaard: Die Dinge entwickeln sich gerade sehr schnell, deshalb haben wir im Büro eine Holzbaugruppe eingerichtet. Zu der gehören Architektur-Designer, Bauplaner und GXN-Experten für zirkuläres Design. Damit wollen wir sichergehen, dass wir auf dem neuesten Stand sind und alle an einem Strang ziehen.
Wenn Sie ein Traumprojekt wählen könnten, welches wäre das?
Nielsen: Ein Traumprojekt ist für mich eines, das großen Einfluss und eine positive Wirkung auf die Menschen hat. Den richtigen Kunden und die richtige Gelegenheit für ein Projekt zu bekommen, das in vieler Hinsicht ein Game-Changer sein kann. Zum Glück bekommen wir solche Projekte von Zeit zu Zeit. Das Upcycling-Hochhaus war so eines, und jetzt steht es als neue Ikone in Sydney.
Interview: Gertraud Gerst
Bilder: Adam Mørk, Lasse Martinussen, 3XN/GXN