Lebende Brücken von Meghalaya
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Bau(m)werke von morgen

Das neue Studienfach der Baubotanik lässt Bäume mit Stahl und Beton verwachsen. Vertreter dieser Disziplin verbinden eine prähistorische indische Bautechnik mit der modernen Architektur.

Auf einer knorrigen, moosbewachsenen und überwucherten Brücke gelangt man von einem Flussufer zum anderen. Getragen wird sie allein von einer netzartigen Struktur an Wurzeln, die über Jahrzehnte sorgsam von Hand verflochten wurden. Diese lebenden Brücken erschließen unzugängliche Täler und Schluchten im nordindischen Meghalaya-Plateau. Sie bestehen aus den Luftwurzeln des Gummibaumes Ficus elastica und sind zum Teil über 50 Meter lang. In ihrer Stabilität und Lebensdauer sind sie Konstruktionen aus Stahl und Beton bei weitem überlegen. Der indigene Volksstamm der Khasi praktiziert diese prähistorische Bautechnik noch heute. Forscher der Baubotanik haben ihre Konstrukte eingehend analysiert und arbeiten nun daran, sie in die moderne Architektur einzubinden. 

Die Baubotanik nähert sich dem Baum technisch und der Architektur biologisch, dadurch können wir das Verhältnis von Natur und Architektur neu ausloten.

Ferdinand Ludwig, Professor für Baubotanik

Der Begriff der Baubotanik wurde an der Universität Stuttgart entwickelt und steht für das Verbinden von lebenden und nicht-lebenden Konstruktionselementen. Bäume verwachsen mit der technischen Struktur aus Stahl und Beton und können in der Folge ein Bauwerk tragen, kühlen, beschatten und letztlich zum Leben erwecken.

Die Entwicklung des baubotanischen Turms
Die Entwicklung des baubotanischen Turms, ein Kunstprojekt in Wald-Ruhestetten: links kurz nach Fertigstellung, ein Jahr später und in Zukunft der Turm ohne Hilfsträgerkonstruktion.

Bauwerke werden lebendig

„Die Baubotanik nähert sich dem Baum technisch und der Architektur biologisch, dadurch können wir das Verhältnis von Natur und Architektur neu ausloten“, beschreibt Ferdinand Ludwig sein neu gegründetes Studienfach. Der Professor für Green Technologies in Landscape Architecture an der TU München ist Pionier auf diesem Gebiet und hat für seine Entwürfe und Konstruktionen bereits einige Auszeichnungen erhalten. 

Seine lebenden Bauten hat der Städteplaner so konstruiert, dass sie anfangs von Stahlträgern stabilisiert werden. Die gesetzten Bäume können mit zunehmendem Wachstum immer mehr Trägerfunktionen übernehmen und die anfängliche Hilfsstruktur ersetzen. Die Pflanzen sind somit nicht attributives Schmuckwerk, sondern elementarer Bestandteil der Konstruktion. Damit tritt laut Ludwig eine „Verlebendigung der Architektur“ ein. Die Bauwerke treiben im Frühjahr aus und werfen im Herbst ihr Laub ab.

Baubotanik gegen Hitzestress

Angesichts verdrängter Grünflächen in ständig wachsenden Städten sorgen Ludwigs Entwürfe für reges Interesse. Denn mit zunehmender Bevölkerungsdichte und Versiegelung von Flächen steigt die Temperatur. „Gerade in den Städten ist ein Großteil der Fläche mit Stein, Beton und Asphalt verbaut. Diese Materialien heizen sich bei hohen Temperaturen schnell auf, Menschen und Tiere in den Städten leiden unter Hitzestress“, erklärt Ludwig. 

Lebende Brücke im Meghalaya-Plateau in Indien
Die Baubotanik bedient sich einer prähistorischen indischen Bautechnik, die unzugängliche Täler auf dem Meghalaya-Plateau durch lebende Brücken verbindet.

Mit der Baubotanik muss nicht extra Raum für die Pflanzen geschaffen werden, da sie integraler Bestandteil der Bauwerke sind.

Ferdinand Ludwig, Professor für Baubotanik

Dass Pflanzen kühlen und damit auch das Klima in der Stadt verbessern, ist hinlänglich bekannt. Ludwigs Konzept geht allerdings noch einen Schritt weiter. „Mit der Baubotanik muss nicht extra Raum für die Pflanzen geschaffen werden, da sie integraler Bestandteil der Bauwerke sind.“ Damit können sie auch der steigenden Erderwärmung etwas entgegensetzen, ist Ludwig überzeugt. „Es geht darum, sich besser an die Folgen des Klimawandels anzupassen.“

Vorausschauendes Bauen ist Pflicht

Genau wie das Volk der Khasi im indischen Regenwald, so müssen auch Baubotaniker ihre Strukturen vorausschauend planen. Denn ein Baum lässt sich nicht präzise konstruieren wie ein herkömmliches Bauwerk. Vielmehr nimmt er seine Gestalt anhand der bestehenden Umweltbedingungen an, und das kann nicht exakt geplant werden. „Der Baum ist auch nie fertig, sondern wächst immer weiter – bis er irgendwann stirbt. Mich fasziniert genau dieser Gegensatz“, sagt der Baubotaniker, der sich bereits seit Beginn seines Studiums mit dem Thema befasst. 

Entwurf einer baubotanischen Straße für Stuttgart
Entwurf einer baubotanischen Straße für Stuttgart

Bei derartigen Projekten müssen sich Architekten schon in der Entwurfsphase mit den Bedürfnissen des Organismus auseinandersetzen. Sie benötigen das gesammelte Wissen aus Botanik, Forstwirtschaft und Gartenbau. Faktoren wie das Wachstumspotenzial einer Pflanze und eine entsprechende Regulierbarkeit müssen in die Planung miteinbezogen werden, betont Ludwig. „Wir verwenden bestimmte Techniken wie die Pflanzenaddition, bei der Pflanzen miteinander verwachsen, um das gewünschte Grünvolumen schneller zu erreichen.“ Auch das Absterben von Ästen ist – genau wie in der Natur auch – Teil des Bauprozesses. Ein baubotanisches Konstrukt muss daher kontinuierlich gepflegt und gewartet werden.

Verwachsung von zwei Baumstämmen
Verwachsung von zwei Baumstämmen, ähnlich wie bei den Luftwurzeln des Ficus elastica.

Platanenkubus in Nagold
Der begehbare Platanenkubus ist eine Art vertikale Parkanlage auf drei Stockwerken.

Parkanlage auf drei Stockwerken

Der Platanenkubus in der süddeutschen Stadt Nagold ist das bislang größte baubotanische Bauwerk Ludwigs. Er wurde als Beitrag zur Landesgartenschau 2012 in Nagold für einen konkreten urbanen Kontext konzipiert. Der begehbare Kubus ist eine Art vertikale Parkanlage auf drei Stockwerken, die von einer Baumstruktur getragen wird. Sie wird der Mittelpunkt einer geplanten städtebaulichen Anlage sein und sich in eine Gruppe von Stadthäusern einfügen. 

Text: Gertraud Gerst
Foto: Getty Images, Ludwig/Schönle, Bellers, LUBW, Ferdinand Ludwig, Cornelius Hackenbracht, U. Benz/TUM

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