Radikal zu Fuß
Das kalifornische San Diego bekommt einen neuen Stadtteil, und der ist zu 100 Prozent autofrei. Damit ist das Projekt Neighbourhood Next so ziemlich das radikalste, was man in den USA planen kann.
Kein Land hat die individuelle Motorisierung so vorangetrieben wie die USA. Seit den 1960er-Jahren hat sich der Autobesitz vervielfacht. Im Jahr 2015 kamen auf 1000 Personen 788 Pkw, was die höchste Motorisierungsrate der Welt ist. Das Automobil wurde zum Symbol für die persönliche Freiheit. Die Städtebauer sind diesem Mantra gefolgt und haben das Auto zum Verkehrsträger Nummer eins erklärt. Das geht so weit, dass der Fußgänger in einer Art sozialräumlicher Selektion vielerorts abgeschafft wurde. An diesen unbegehbaren Orten gibt es weder Gehsteige noch Zebrastreifen, und das Gehen neben der Straße ist mitunter behördlich untersagt.
Die 15-Minuten-Community
Vor diesem Hintergrund wirkt der neue Masterplan für San Diego wie ein Bollwerk gegen den American Way of Life. Im neuen Quartierskonzept Neigborhood Next wird der motorisierte Verkehr außer Kraft gesetzt und eine 15-Minuten-Community geschaffen. Das bedeutet, dass alle Einrichtungen des täglichen Lebens in maximal 15 Minuten fußgängig zu erreichen sind. Von der Schule und diversen Geschäften bis hin zu Freizeiteinrichtungen und Büros.
Dazwischen erstrecken sich grüne Promenaden und zahlreiche öffentliche Parks, in denen die Bewohner das radikale zu-Fuß-Gehen ausgiebig praktizieren können. Die einzigen Transportmittel, die das Mobilitäskonzept vorsieht, sind Fahrräder. „Der Plan setzt auf das ‚15-Minuten-Konzept‘ und erlaubt es Bewohnern zwischen Arbeit und Privatleben zu pendeln, ohne dass sie dafür ein Auto brauchen“, heißt es im Masterplan.
Der Plan setzt auf das ‚15-Minuten-Konzept‘ und erlaubt es Bewohnern zwischen Arbeit und Privatleben zu pendeln, ohne dass sie dafür ein Auto brauchen.
Masterplan, 3XN/GXN, Gehl Architects
Auf dem Areal von San Diegos Sportarena aus dem Jahr 1966 soll ein innovatives, neues Quartier entstehen. Das City Council will aus dem Gewerbegebiet ein nachhaltiges Wohnviertel nach europäischem Vorbild machen. Den Masterplan zu Neighborhood Next liefern die Spezialisten aus Dänemark – die Architekturbüros 3XN/GXN und Gehl Architects. Partner für das Projekt ist der Developer ConAm Management Corporation.
Das lebenswerteste Stadtviertel der Welt
Im autofreien Viertel sollen an die 5000 Wohneinheiten für alle Einkommensgruppen entstehen. Dabei gibt die Stadt vor, dass 25 Prozent aller Apartments leistbares Wohnen bieten sollen. Für die Bewohner will man ein All-Inclusive-Ökosystem schaffen, das den Anspruch hat, das „lebenswerteste Stadtviertel der Welt“ zu werden.
Eine Brücke soll die Fußgängerzone über den Freeway erweitern und so eine Verbindung zum Fluss herstellen. Die intensiv bepflanzte Promenade GreenLine verbindet alle Ecken des Viertels miteinander und dient als grüne Lunge des Areals. Wie die Visualisierung des vorbildlichen Stadtviertels zeigt, gibt es auch auf den Dächern der einzelnen Häuser begrünte Anlagen.
Ob die Arena als Bestandsobjekt saniert, neu errichtet oder an einen andern Standort verpflanzt wird, ist noch nicht klar. Im Masterplan der dänischen Architekten bildet sie jedenfalls das Herzstück des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Wobei die Planer auch die Möglichkeit offen lassen, hier eine Schule, eine Bücherei, eine Kinderbetreuungseinrichtung oder ein Kunstzentrum unterzubringen. Zusätzlich sind flexible Räume für die gemeinschaftliche Nutzung vorgesehen.
Entgegen der Zersiedelung
3XN/GXN und Gehl Architects konnten sich mit ihrem Vorschlag in der ersten Runde gegen ihre Mitbewerber durchsetzen. San Diego scheint es mit dem autofreien Way of Life tatsächlich ernst zu meinen.
In der lokalen Presse sieht man den Vorschlag bislang kritisch, denn eine derart hohe Einwohnerdichte kennt man außerhalb der Downtown nicht. Außerdem bilden die vielen Wohnblöcke einen harschen Gegensatz zum amerikanischen Ideal für Lebensqualität, dem Einfamilienhaus.
Doch mittlerweile dämmert es auch den amerikanischen Städtebauern, dass sich die ausufernde Zersiedelung der letzten Jahrzehnte nicht mit den Klimazielen vereinbaren lässt. Denn mit dem Bau von Einfamilienhäusern sind auch der Individualverkehr und die damit verbundenen CO₂-Emissionen angestiegen. Deshalb wird jetzt – zumindest im Entwurf – aus dem Auto ausgestiegen.
Text: Gertraud Gerst
Visualisierungen: 3XN