Unter dem fliegenden Rock
Das neue Nationaltheater des Kosovo wird ein avantgardistischer Holzbau nach den Plänen des dänischen Architekturbüros Bjarne Ingels Group. Dass die außergewöhnliche Kubatur an einen wehenden Rock erinnert, ist dabei kein Zufall.
Das Nationaltheater in der kosovarischen Hauptstadt Pristina, das offiziell den Namen Teatri Kombëtar i Kosovës trägt, bekommt einen neuen Austragungsort. Der über einen Architekturwettbewerb ausgeschriebene Neubau soll mehr Platz schaffen und dabei nicht nur Identität stiften und das kulturelle Erbe hochhalten, er soll auch international für Anerkennung sorgen. Und die wird das siegreiche Büro des dänischen Star-Architekten Bjarke Ingels mit Sicherheit liefern. Der präsentierte Entwurf zeigt einen skulpturalen Baukörper, dessen geschwungene Ausläufer einem weiten, wehenden Rock ähneln. „Das wellenförmige Dach erzeugt eine fließende und einladende Geste, die an die Xhubleta, die traditionelle Nationaltracht des Kosovo, erinnert“, so Bjarke Ingels, Gründer und Creative Director des Architekturbüros BIG.
Die Geschichte der Xhubleta reicht an die 4.000 Jahre zurück, und bis heute wird sie von albanischen Frauen im Balkan-Hochland getragen. Der Trachtenrock besteht in der Regel aus 13 bis 17 horizontal vernähten Streifen, die für seine glockenförmige Silhouette sorgen. Weil das traditionelle Kleidungsstück immer mehr aus dem Alltag verschwindet, hat man die Xhubleta 2022 zum UNESCO Weltkulturerbe erklärt.
Außenfläche gehört den Fußgängern
In der glockigen Form des neuen Nationaltheaters ist sie künftig auch architektonisch verewigt. Die Wellen, die das Dach nach unten hin ausbildet, lassen das Gebäude weich und geschmeidig erscheinen. Als wäre eine Textilie mitten in der wehenden Bewegung erstarrt.
Das wellenförmige Dach erzeugt eine fließende und einladende Geste, die an die Xhubleta, die traditionelle Nationaltracht des Kosovo, erinnert.
Bjarke Ingels, Gründer und Creative Director von BIG
Überall, wo sich das Dach in einer Welle erhebt, kann das Gebäude betreten werden. Eine intuitive Erschließung, die sich allein durch die Form ergibt.
Laut Architekturbüro sind die Außenflächen ganz bewusst nur für Fußgänger ausgerichtet. Die Visualisierungen zeigen das Theater auf einer freien Fläche und ohne direkten Straßenanschluss. “Um die Erschließung für Fußgänger zu priorisieren, wurden alle Fahrzeugzugänge unter die Erde verlegt, wodurch das Gelände als dynamischer öffentlicher Park und Platz genutzt werden kann.“
Holzdach als bauliche Klammer
Die silbrigen Photovoltaik-Schindeln bilden die homogene Oberfläche des Daches und erzeugen Strom, ohne das Design in irgendeiner Art zu beeinträchtigen.
Tritt man unter dem Saum des Daches hindurch, präsentiert sich das mächtige Holztragwerk dieser Freiformkonstruktion. Das strenge geometrische Raster der parallel angeordneten Brettschichtholzträger trifft im Inneren auf die hellen, runden Formen der Konzert-, Theater- und Konferenzsäle.
Der rationale Kern ist in eine durchgehende Überdachung gehüllt, wodurch ein ansprechender öffentlicher Raum entsteht, der in alle Richtungen offen ist.
Bjarke Ingels, Gründer und Creative Director von BIG
Ähnlich wie bei Shigeru Bans preisgekröntem Entwurf für das Centre Pompidou-Metz bildet die Holzdachkonstruktion eine bauliche Klammer für die unterschiedlichen Funktionen darunter. Diese luftige Verpackung über einer „pragmatischen Anordnung“ von Kulturräumen lässt großzügige Zwischenräume entstehen, die Imposanz vermitteln.
Architekt Bjarke Ingels beschreibt es wie folgt: „Unser Entwurf für das Opern- und Balletttheater des Kosovo ist wie eine effiziente Fabrik für die Produktion künstlerischer Darbietungen konzipiert. Der rationale Kern ist in eine durchgehende Überdachung gehüllt, wodurch ein ansprechender öffentlicher Raum entsteht, der in alle Richtungen offen ist.“
Holz für Ästhetik und Akustik
Die Konzert- und Theatersäle sind von geschwungenen Holzelementen geprägt, die nicht nur ästhetischen Charakter haben, sondern auch die Raumakustik verbessern.
Matte Holzoberflächen treffen auf üppige Samtpolsterungen und schwere Schallschutzvorhänge. Das einheitliche Designkonzept vermittelt Gediegenheit und unterstreicht das sinnliche Erlebnis des Theaterbesuchs auf einer optischen und haptischen Ebene.
Ein Oberlichtband in der zentralen Eingangshalle unterstreicht den hohen Luftraum und lässt natürliches Tageslicht von hoch oben bis in die Tiefe des Erdgeschosses fallen. Eine leicht entrückte Szenerie entsteht, die dem Kulturbau etwas Kathedralenhaftes verleiht. „Das Design des Theaters symbolisiert eine neue Ära der Kunst und Kultur des Kosovo – mit dem Potenzial, das Herz aller zu berühren, die es erleben“, erläutert Andy Young, Partner von BIG in London.
Text: Gertraud Gerst
Visualisierungen: BIG