Letzte Tage der Zukunft
Der Nagakin Capsule Tower von Architekt Kisho Kurokawa war 1972 der Inbegriff des avantgardistischen Wohnens. Die Ikone der japanischen Metabolisten soll nun zerlegt und in Tiny Houses verwandelt werden.
So sah also die Zukunft im Jahr 1972 aus. Modulare Wohneinheiten sollten dem Homo Movens, also dem Menschen in Bewegung, die Flexibilität geben, die er braucht. Im Inneren hatte der standardisierte Kubus mit dem prägnanten Rundfenster etwas von Star Trek. Eine Raumkapsel, die mit ihrem durchdachten Einbaukonzept samt (damals) neuester Technik ein Meisterwerk an Funktionalität auf kleinstem Raum war. Architekt Kisho Kurokawa kam mit seinem Nagakin Capsule Tower der aktuellen Tiny House-Bewegung 50 Jahre zuvor.
Jahrzehntelang war der Turm eine Landmark im Tokioter Stadtteil Ginza und das bekannteste Bauwerk der japanischen Metabolisten. Doch die Zeit ist nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Die Kapseln sind zum Teil in desolatem Zustand, und in den Dächern und Böden ist jede Menge Asbest verbaut.
Eine Ikone wird neu konfiguriert
Der Versuch eines Investors Anfang der 2000er-Jahre den Kapselturm abzureißen, scheiterte an der Weltwirtschaftskrise 2008. Eine Komplettsanierung des ikonischen Bauwerks wurde auf 75 Millionen Dollar geschätzt, doch ein Investor dafür ließ sich nicht finden. Nun haben sich die verbliebenen Bewohner und Eigentümer mit dem Input von Kisho Kurokawa Architects und dem Urban Design Office Chiyoda-ku auf eine gemeinsame Lösung geeinigt.
Der Nagakin Capsule Tower wird in seine einzelnen Module zerlegt, die als bewohnbare Tiny Houses verkauft oder an Museen verschenkt werden sollen. Die Restaurierung der Kapseln nach ihrer Originalausstattung möchten die Initiatoren über ein Crowdfunding finanzieren. Anstatt sie abzureißen und zu zerstören, wollen sie die Ikone also wiederbeleben und neu konfigurieren. Eine Lösung, mit der auch die Metabolisten von damals zufrieden wären.
Architektur als kontinuierliche Erneuerung
Der japanische Begriff shinchintaisha (Stoffwechsel, Metabolismus) wurde erstmals 1958 vom Architekten Noboin Kawazoe verwendet. Er steht für den Austausch von Material und Energie zwischen Organismus und Außenwelt. Die Anhänger des Metabolismus wollten den organischen Lebenszyklus von Geburt und Wachstum auf den Städtebau übertragen.
Sie begründeten das Bauen in vorgefertigten Modulen, die an einer erweiterbaren Großstruktur verankert waren. So wie beim organischen Zellaustausch sollten sich auch die Module nach Bedarf erneuern oder erweitern. Ein Plan, der für den Nagakin Tower allerdings nicht aufgegangen ist. Während sich die Umgebung des Ginza-Viertels in den letzten 50 Jahren dramatisch veränderte, blieb der Turm in seiner zeitgeschichtlichen Blase hängen.
Ein begehrtes Kultobjekt
Sehr zur Freude von Architekturliebhabern, für die die Wohnkapseln zum begehrten Kultobjekt wurden. Seit 2018 vermieteten sie die Eigentümer als „Monthly Capsules“ auf monatlicher Basis, um die besondere Wohnerfahrung möglichst demokratisch zu verteilen. Die unterschiedlichen Interieurs, die sich Mieter in den Kapseln geschaffen haben, zeigt der Bildband „Nagakin Capsule Style“, der 2020 im Soshisha-Verlag erschienen ist.
Nach zahlreichen Anfragen von Museen, wie dem Centre Pompidou, entschlossen sich die Architekten dazu, die Kapseln in Museen auf der ganzen Welt auszustellen. So könnten möglichst viele Menschen dieses einzigartige Design erleben. Im Museum of Modern Art Saitama, dessen Entwurf ebenfalls von Kisho Kurokawa stammt, können Besucher derzeit ein Original-Modell besichtigen.
50 Jahre nach der Entstehung des Nagakin Capsule Towers ist Kurokawas Vision aktueller denn je. Architekten beschäftigen sich heute intensiv mit der Frage der städtischen Nachverdichtung, mit dem Konzept des flexiblen Wohnens und Arbeitens sowie mit der Kreislauffähigkeit des Bauens. Die Zukunft sieht heute also gar nicht viel anders aus.
Text: Gertraud Gerst
Fotos: Nagakin Tower, Josugoni, Jordi Meow, Nagakin Capsule Style (Soshisha)