Mehr als gut, Toogood
Ihre Möbel avancieren in Rekordzeit zu Klassikern, ihre Mode trifft den Nerv der Zeit. Die britischen Schwestern Faye und Erica Toogood sind die Darlings der Sammlerszene und schaffen ikonisches Design.
Als Gerrit Rietveld 1934 seinen Zickzack-Stuhl herausbrachte, waren die wenigsten vom ikonischen Wert überzeugt, den er wenige Jahrzehnte später haben würde. Im Gegenteil, viele Sammler hielten den minimalistischen Holzstuhl, der aus vier verleimten Kirschholzplatten bestand, für einen schlechten Witz. Auch die zu ihrer Zeit revolutionären Stahlrohr-Möbel von Eileen Gray wurden erst sehr viel später zum Klassiker. Designer, die bereits zum Zeitpunkt ihres aktiven Schaffens zu den Darlings der Sammlerszene gehören, sind wohl die Ausnahme. So eine Ausnahme sind die britischen Schwestern Faye und Erica Toogood.
Eine Tüftlerin, die andere Schneiderin
Als „Zufallsrevolutionäre“ bezeichnete sie das englische Kultmagazin „Cereal“ in seiner 17. Ausgabe, und das trifft es eigentlich ganz gut. Statt durch die klassischen Designerschmieden zu gehen, kommen sie beide aus ganz anderen Ecken. Aus dem Handwerken, dem Sammeln, dem Neuordnen und dem Spielen. Im Grunde machen sie heute das, was sie bereits als Kinder gemacht haben.
„In Gummistiefeln ging Faye auf Streifzüge durch die Wälder und sammelte Äste, Steine und kleine Gebeine. Am Kaminsims in ihrem Zimmer gab sie dann den Fundstücken eine immer neue Ordnung“, so die Kindheitsbeschreibung der studierten Kunsthistorikerin. „Erica war von früher Kindheit an besessen von Formen und Würfen. Mit acht Jahren kaperte sie eine Singer Nähmaschine und nähte sich aus einem alten Windsack ein Oberteil,“ heißt es über die gelernte Musterschneiderin. Die Rollen der beiden waren früh abgesteckt und haben sich bis heute nicht geändert. Die Schwestern bezeichnen sich gegenseitig als „die Tüftlerin“ und „die Schneiderin“.
Der Roly-Poly Chair
Faye Toogood arbeitete als Interior-Stylistin bevor sie 2008 das Studio Toogood gründete. Zur tiefgehenden Ergründung von Objekt, Skulptur und Raum, wie sie selbst sagt. Mittlerweile sind ihre Möbel und Objekte Teil zahlreicher permanenter Sammlungen rund um den Globus.
Größte Bekanntheit erlangte sie mit ihrem Roly-Poly Chair, der unter Sammlern bereits zum Klassiker avanciert ist. Damit gesellt er sich zu Ikonen wie dem Eames Chair und Jacobsens Egg Chair. In den Konzepten namhafter Inneneinrichter findet sich der dickbeinige Glasfaser-Sessel neben Möbelklassikern von Jean Prouvé und Serge Mouille.
Natürliche Unregelmäßigkeiten in der Oberfläche sollten nicht als Fehler missverstanden werden. Erst sie machen jedes handgefertigte Stück einzigartig.
Faye Toogood, Tüftlerin
Der Roly-Poly Chair ist eine Wertanlage und wird „von Meister-Handwerkern in Einzelarbeit gefertigt“, heißt es in der Beschreibung. „Natürliche Unregelmäßigkeiten in der Oberfläche sollten nicht als Fehler missverstanden werden. Erst sie machen jedes handgefertigte Stück einzigartig.“ Die aufwändige handwerkliche Fertigung entspricht dem aktuellen Paradigmenwechsel, der das Design wieder mehr in die Nähe des Kunsthandwerks rückt und die nicht-maschinelle Fertigung zelebriert. Eine erschwinglichere Gartenmöbelserie aus Polyethylen hat die Designerin für das italienische Möbelhaus Driade herausgebracht.
Der neue Chubby Chic
Die schüsselartige Sitzfläche mit den dicken, runden Beinen ist wohl das Gegenteil von dem, was man als feingliedrig bezeichnen würde. „Faye Toogoods Roly-Poly Chair aus Glasfaser ist die perfekte Verbindung von Form und Funktion“, sagt die US-amerikanische Interior-Designerin Kelly Behun über das verspielte Sitzmöbel. „Er ist unheimlich charmant und zeitlos, wie eine pausbäckige Babywange, die einem immer ein Lächeln entlockt.“
Der Roly-Poly Chair ist unheimlich charmant und zeitlos, wie eine pausbäckige Babywange, die einem immer ein Lächeln entlockt.
Kelly Behun, Interior-Designerin
Mit seiner molligen Form steht der Roly-Poly Chair für eine neue Ästhetik, Marke Chubby Chic. Die australische „Vogue Living“ rief die neuen, kurvigen Silhouetten im Möbeldesign zum größten Trend für das Jahr 2020 aus. „Während wir in Vorbereitung auf den Sommer Selleriesaft schlürfen, platzen die Möbel aus allen Nähten“, konstatierte das Magazin und verortete in den vollschlanken Wohnbegleitern einen gesellschaftlichen Bedarf an großen, tröstenden Umarmungen.
Denselben prallen Charme versprühen auch andere Möbel und Interior-Accessoires von Toogood, wie der Roly-Poly Esstisch, die Chubby Bench (mollige Bank) und die dreibeinige Kannenserie aus Steingut für die Tokioter Galerie E&Y.
Mode von Außenseitern
Mit ihrem 2013 gegründeten Modelabel Toogood bündelten die Schwestern ihre kollektive Vision in Form von Kleidung. Die komfortabel und mit Witz geschnittene Unisex-Mode enthält zahlreiche Referenzen an die Vergangenheit. Ihre erste Kollektion bestand aus acht Mänteln, die acht verschiedene Gewerbe repräsentierten, vom Imker bis zum Straßenkehrer.
Die regionale Herkunft und die Produktionsschritte jedes einzelnen Kleidungsstücks wird mittels eingenähtem „Passport“ dokumentiert. Es ist eine Mode, die Authentizität verspricht und sich nicht am bestehenden Markt orientiert. Kein verzweifelter Versuch, den Trends immer eine Nasenlänge voraus zu sein. Doch genau damit trafen sie in Paris den Nerv der Zeit. Mittlerweile verfügt Toogood über ein Netzwerk von mehr als 50 Händlern.
Wenn in einem Prozess echte Hingabe steckt, können Menschen eine Verbindung zum fertigen Produkt herstellen.
Faye Toogood, Tüftlerin
Die Toogoods stehen zu ihrer Außenseiterrolle. Das ermöglicht ihnen einen freien Blick auf die Dinge. „Wir werden immer Außenseiter sein. Wir stehen außerhalb der Bereiche Möbel, Produkt, Kunst, Einrichtung und Mode, aber wir nehmen an allem teil“, so Faye im „Cereal“-Interview. „Wenn in einem Prozess echte Hingabe steckt, können Menschen eine Verbindung zum fertigen Produkt herstellen. Die Verbindung zu den Dingen ist das, wofür wir leben.“