Die grünen Hügel von Speyside
Nicht in einer Weltmetropole, sondern im schottischen Hügelland befindet sich eines der ambitioniertesten Holzbauprojekte unserer Zeit. Das doppelt gekrümmte Holzkuppeldach der Macallan Distillery ist Ingenieurskunst auf höchstem Niveau.
Im nördlichen Schottland, an der Grenze zwischen den Highlands und den Lowlands, liefert die Landschaft ein Bilderbuchbeispiel für das, was man im Englischen unter „rolling hills“ versteht. Also eine sanfte, hügelige Landschaft, die sich bis zum Horizont erstreckt. Die fruchtbare Region entlang des Flusses Spey – die sogenannte Speyside – ist vor allem bekannt für ihre Whiskyproduktion und rühmt sich der höchsten Dichte an Brennereien weltweit. Unter fünf grünen Hügeln dieser Landschaft befindet sich die neue Macallan Distillery, eine der komplexesten Holzkonstruktionen der Welt.
Holzbau-Knowhow aus Österreich
Das Dach der neuen Destillerie samt Besucherzentrum besteht aus 1.800 individuell geformten Einzelträgern, 2.500 verschiedenen Dachelementen und einer Gesamtzahl von 380.000 Einzelkomponenten. Das Knowhow für den hochkomplexen Ingenieur-Holzbau und die vorgefertigten Bauteile stammen vom oberösterreichischen Unternehmen WIEHAG mit Sitz in Altheim. Den Architekturwettbewerb, der zunächst nur von einem Erweiterungsbau mit angeschlossenem Besucherzentrum ausging, gewann das hochkarätige Architekturbüro Rogers Stirk Harbour + Partners.
Das Büro wurde 1977 vom Pritzker-Preisträger Richard Rogers gegründet, der als einer der einflussreichsten Architekten weltweit gilt. Zu seinen bekanntesten Bauwerken zählen das Centre George Pompidou in Paris und der Millennium Dome in London. Im Gegensatz zur technikgeprägten Fassade des Centre Pompidou stellt der betont horizontale Entwurf der Macallan Distillery eine organische Architektur dar, die in der umgebenden Landschaft kaum auszumachen ist.
Es geht darum, Grenzen zu überschreiten und über das hinauszugehen, was normal ist, was Routine ist.
Scott McCroskie, Geschäftsführer von The Macallan
Form folgt Produktion
Auf der begrünten Dachlandschaft wächst eine schottische Wildblumenwiese, die sich im Takt der vier Produktionseinheiten, die darunter liegen, gleichmäßig hebt und senkt. Die fünfte und größte Kuppel markiert den Eingang und das Besucherzentrum. Als Kontrast zum lebenden Wiesendach kommt die zweigeschossige Glasfront des 207 Meter langen Gebäudes recht futuristisch daher. Während sie von außen den Blick auf die Whiskyproduktion freigibt, schafft sie im Inneren einen zur Landschaft hin offenen Raum.
Fast wirkt es, als hätte jemand den Landschaftsteppich angehobenen und eine moderne Whisky-Destillerie daruntergeschoben, deren Funktion sich in Form der einzelnen Brennhäuser nach außen hin abzeichnet. Die obere Schicht des Daches trägt das Gründach und dient der Isolierung, während das darunter liegende Holzraster die Tragstruktur bildet.
Hybride Konstruktion aus Holz und Stahl
Es handelt sich dabei um eine Art Gitterschale, deren einzelne Kuppeln von Stahlringankern getragen werden. Diese liegen auf V-förmigen Stahlstützen auf und leiten die Dachlast auf Betonstützen ab. Damit handelt es sich bei der Tragstruktur um ein hybrides System aus Holz und Stahl, an dessen Optimierung die Ingenieure von Arup und Wiehag gleichermaßen beteiligt waren.
Macallan ist die komplizierteste Holzdachkonstruktion, die wir jemals errichtet haben.
Erich Wiesner, Eigentümer und Geschäftsführer von WIEHAG
Die komplexe Geometrie des Kuppeldachs lösten die Holzbauingenieure mithilfe eines digitalen Modells und parametrischen Designs. Über die Gebäudelänge von 207 Metern bedurfte es höchster Präzision, weshalb es sich bei jedem Bauteil um ein exakt berechnetes Unikat handelt. „Wir sind seit über 20 Jahren im Vereinigten Königreich tätig und konnten viele innovative Projekte umsetzen. Macallan ist die komplizierteste Holzdachkonstruktion, die wir jemals errichtet haben“, erklärt Erich Wiesner, Eigentümer und Geschäftsführer von Wiehag.
Investition in die Zukunft
Anstatt für einen Erweiterungsbau samt Besucherzentrum entschied sich die Bauherrschaft am Ende des Wettbewerbsverfahrens dafür, eine komplett neue Destillerie zu bauen und damit den Weg für das innovative Design zu ebnen. „Es geht darum, Grenzen zu überschreiten und über das hinauszugehen, was normal ist, was Routine ist“, begründete Scott McCroskie, Geschäftsführer von The Macallan die Entscheidung. Man müsse mutig und unerschrocken sein und weit in die Zukunft blicken.
Dies gilt vermutlich auch im Hinblick auf die Baukosten. Bei einem Investitionsvolumen von 140 Millionen britischer Pfund (rund 160 Millionen Euro) werden vermutlich einige Jahrzehnte bis zur Amortisation ins Land streichen.
Mit dem Bau von repräsentativen Produktionsanlagen treten die Whiskybrenner in die Fußstapfen der Weinproduzenten, die sich schon vor längerer Zeit einer Signature-Architektur als Markenzeichen verschrieben haben. So findet sich in der spanischen Region Rioja ein dekonstruktivistischer Bau von Frank O. Gehry und eine Avantgarde-Kellerei von Santiago Calatrava.
Fest steht: Mit ihrem spektakulären Neubau zeigt die Macallan Destillerie das kreative Potenzial des modernen Holzbaus und lockt neben Whiskyliebhabern auch Architekturinteressierte in die nördlichen Gefilde von Schottland.
Text: Gertraud Gerst
Fotos: Joas Souza