Wo Feriengäste und Fledermäuse wohnen
Blockhäuser in der Wildnis werden romantisiert, meinen Kariouk Architects. In Wirklichkeit seien sie nur waldige Versionen von Vorstadthäusern und wenig nachhaltig. Mit der m.o.r.e. Cabin tritt das kanadische Team nun den Gegenbeweis an.
Sind Filme wie „Die Abenteuer der Familie Robinson in der Wildnis“ schuld? Oder Jack Londons Literaturklassiker über die Zeit des Klondike-Goldrausches im 19. Jahrhundert? Was auch immer unser romantisches Bild von den paradigmatischen nordamerikanischen Blockhäusern abseits der Zivilisation geprägt hat – und falls es denn je gestimmt haben sollte: Es ist inzwischen längst überholt. Nach Meinung von Kariouk, einem international tätigen Architekturbüro mit Sitz in Ottawa, sind die Holzhütten in der heutigen Zeit nämlich gar keine Hütten mehr, sondern mit allem Komfort ausgestattet. Das Wohnen in ihnen unterscheide sich kaum noch vom Leben in einem Vorstadthaus.
Mythos Naturnähe
Das an sich ist noch nicht problematisch. Doch mit der Romantisierung des (partiellen) Lebens in der Wildnis gehe auch der Mythos einher, dass man die Umwelt weniger belaste, kritisieren die Planer. „Doch nur weil die Holzgebäude optisch eins werden mit der sie umgebenden Waldlandschaft, sind sie noch lange nicht naturnah – oder gar gut für die Natur.“ Oft sei sogar das Gegenteil der Fall. Mit ihrem Entwurf der m.o.r.e Cabin sind die kanadischen Architekten nun angetreten, mit der Öko-Fiktion aufzuräumen.
Dahinter steht nicht Zynismus und auch kein moralisch erhobener Zeigefinger. Vielmehr ist ihr Ansinnen „von dem verantwortungsvollen Optimismus geprägt, dass man mit Andersdenken wirklich zum gewünschten und wünschenswerten Ziel kommt“. Heißt konkret: Indem sich das Design der Cabin bewusst von der Landschaft abgrenzt, sei sie wesentlich nachhaltiger (gebaut) als andere Hütten.
Wochenenddomizil und Dauerbehausung
„Mit dem, was von der Wildnis noch übrig ist, muss verantwortungsvoller umgegangen werden“, betont Paul Kariouk, Gründer von Kariouk Achitects. Wie das gehen kann, zeigt die m.o.r.e Cabin. Sie ist ein Rückzugsort am Lac Du Brochet bei Wakefield in der Provinz Quebec, der behutsam mit dem Land umgeht und Flora und Fauna als gleichberechtigte Partner betrachtet. Die Cabin ist heute nicht nur ein 92-Quadratmeter-Wochenenddomizil für Kariouk, sondern auch eine Dauerbehausung für gefährdete lokale Fledermäuse.
Um das zu erreichen, bedienten sich die Architekten mehrerer Kunstgriffe. Doch zuvor galt es noch einen zweijährigen Rechtsstreit auszufechten. Denn die Bebauungspläne für das Gebiet schrieben einen Mindestabstand von 30 Metern zum Seeufer vor. Dafür hätte jedoch eine Felswand gesprengt werden müssen, um das Grundstück überhaupt nutzbar zu machen.
Im Namen der Natur
Als Alternative schlugen die Architekten vor, die Klippe in den Entwurf zu integrieren, um den Hang und den Wald so wenig wie möglich zu beeinträchtigen. Dafür sollte die Vorderseite der m.o.r.e Cabin dann aber über die 30-Meter-Marke hinausragen. Nach langem Hin und Her nickte die Behörden diese Lösung ab. Man sah ein, dass sie zwar nicht den Zahlen im Gesetzestext, jedoch dem Geist der Abstandsregelung entsprach. Kariouk Achitects hatten erfolgreich ein Abweichen von der Baugenehmigung erwirkt. Ein Gewinn – auch und vor allem für die Umwelt.
Damit die Cabin nun über dem Hang schweben kann, brauchte es eine besondere bautechnische Lösung. Die Planer fanden sie in Form eines Masts. Das Haus ruht auf der einen Seite auf einem sehr kleinen Betonfundament, auf der anderen auf einem Stahlgerüst, der innerhalb des vorgeschriebenen Abstands zum See steht. Damit schlug man gleich mehrere Nachhaltigkeitsfliegen mit einer Klappe.
Mast als Must-have
Den Baubereich hoben die Planer über den Hang hinaus an, die Bodenversiegelung ist dadurch minimal. Durch den Verzicht auf ein herkömmliches, großes Fundament sind die Flora und der Boden des Wassereinzugsgebiets geschützt, auch vor Erosion. Und da die Planer die Verwendung von Beton – eine der größten Emissionsquellen im Bauwesen – deutlich reduzieren konnten, hat sich auch der CO2-Fußabdruck des Projekts drastisch verringert.
Auch lebt es sich in der Cabin alles andere als auf großem CO2-Fuß. Bereits beim Bau kam abfallarmes Brettsperrholz (CLT) aus lokalen Quellen zum Einsatz, das hielt die Transportwege kurz. Die Holzbauteile wurden zudem vorgefertigt, was nicht nur die Bauzeit verkürzte, sondern auch die Landschaft schonte, weil vor Ort keine schweren Maschinen zum Einsatz kommen mussten. Stattdessen konnten alle Elemente und Baumaterialien mit kleineren Lastwägen und kurzen Anhängern angeliefert werden. Ein Fällen von Bäumen entlang der Zufahrtsstraße? Unnötig.
Gefaltete Struktur
Die Umweltüberlegungen beim Bau führten auch zu einer strukturellen Innovation: „Die Einhaltung der Schutzzone durch die Auskragung hätte normalerweise die Verwendung von Brettschichtholz erfordert. Es hat eine hohe Zug- und Biegefestigkeit. Jedoch hätte das zu einem verschwenderischen strukturellen Rahmen geführt“, erklärt Projektarchitekt Chris Davis. „Unsere Herausforderung bestand also darin, eine strukturelle Strategie für die Verwendung von CLT-Platten unter Spannung zu entwickeln.“
Herkömmliche 5-lagige CLT-Platten sind zu schwer, um sich selbst über längere Spannweiten zu tragen. CLT wird deshalb grundsätzlich in vertikalen, kompressiven Abschnitten eingesetzt, nicht aber in horizontalen Zugabschnitten. Die Lösung fand man schließlich in der Verwendung von dünnerem, 3-lagigen CLT, dessen strukturelle Kapazität durch „Falten“ gewährleistet wird – „so wie Papier durch Falten an Festigkeit gewinnt“.
Aus der vermeintlichen Not entpuppte sich zudem gleich als eine doppelte Tugend: Denn die CLT-Struktur und -Verkleidung bietet aufgrund ihrer Masse und ihrer Luftdichtheit – präziser Tischlerarbeit sei Dank – einen guten R-Wert (Maßstab für den Wärmedurchgangswiderstand eines Materials) und thermischen Komfort. In den wärmeren Monaten wird es im Inneren dennoch nicht zu heiß: Zur Kühlung nutzt die höhergelegene Hütte die Wind-Brisen vom nahen See zur Querlüftung. Die holzverkleideten Innenräume mit einer Deckenhöhe von über 3,60 Metern tragen zusätzlich zu einem angenehmen Wohnklima bei.
Effizient beheizt und energieautark
An kühleren Tagen sorgt ein Holzofen für Behaglichkeit. „Und da Holz kein fossiler Brennstoff ist, der aus der Tiefe geholt wird, trägt es auch nicht zum bestehenden Kohlenstoffkreislauf bei“, rechtfertigt Chris Davis die Beheizung des Hauses durch Holz. Im Winter lassen die entlaubten Bäume, die im Sommer für Beschattung sorgen, zudem viel Sonnenlicht durch die große, nach Süden ausgerichtete Glaswand ein. Das trägt zusätzlich zur Beheizung des Hauses bei.
Apropos Glaswand: Der Panoramablick sucht seinesgleichen. Romantik hin oder her: Eine traditionelle Blockhütte kann da mit ihren Minifenstern nicht mithalten. Kein Wunder also, dass die m.o.r.e. Cabin schon kurz nach ihrer Fertigstellung nicht nur vom Hausherren, sondern auch von zahlreichen Gästen gern und häufig besucht wird. Auch die Nachbarn schauen regelmäßig vorbei. Ihnen ist die Aussicht aber wohl eher egal – handelt es sich bei ihnen doch um braune Fledermäuse.
Einladung an tierische Nachbarn
„Ein Ziel des Hauses war, Quartiere für die vom Aussterben bedrohten braunen Fledermäuse der Region zu schaffen“, erzählt Paul Kariouk. Auch hier erwies sich der lang erstrittene Mast als Segen. In ihn wurden nämlich Fledermauskästen integriert – zum Schutz vor kletternden Raubtieren. Von dort aus haben die Tiere weiterhin eine freie Flugbahn zum See.
Der Name des Projekts, m.o.r.e Cabin, leitet sich übrigens von den Vornamen-Initialen der Großmütter des Bauherrenpaares ab. Ob die vier Damen Maria, Ornella, Ruth und Esther hießen oder Michiko, Olga, Ramaneeya und Esperanza, verrät Paul Kariouk nicht. Wohl aber, dass es sich bei ihnen um Immigrantinnen handelte, die alle ein zwar sehr schwieriges, aber doch glückliches Leben führten. „Sie haben mit weniger mehr erreicht – und das mit Anstand und Respekt. Und genau das soll auch dieses Cabin-Projekt widerspiegeln.“
Vier Frauen, eine Cabin
So mag die m.o.r.e Cabin zwar das Erscheinungsbild eines „einfachen“ Hauses haben und vordringlich die Aufgabe erfüllen, ihren Bewohnern in der Wildnis ein Dach über dem Kopf zu bieten. „Für uns aber zeigt die ,Hütte‘ vor allem auch Wege auf, wie nuancierte Überlegungen zu rechtlichen Vorschriften, Bautechnik, Struktur und Ethik aufeinander abgestimmt werden können – im Dienste der Menschen und der Natur “, betont Paul Kariouk.
Ein Projekt, das eigentlich nach Nachahmern, Nachbauern ruft. Vielleicht wird es sie geben. Doch Kariouk Architects werden dann wohl nicht an Bord sein. Denn während sich viele Architekturbüros damit rühmen, einen eigenen Stil zu haben, ist man bei Kariouk stolz darauf, dass es kein bestimmtes Erscheinungsbild gibt, das ein Gebäude eindeutig als eines der ihren ausweist.
Alles bleibt anders
Das Markenzeichen der Firma ist vielmehr, dass keine zwei Projekte gleich aussehen. „Da wir jedes kreative Projekt mit einem neuen Blickwinkel angehen, sind die Endergebnisse immer von völlig anderen Kriterien und Inspirationen geprägt“, so der Bürogründer. „Es ist uns sehr wichtig, die Nuancen des Lebens zu verstehen und den Bedürfnissen der einzigartigen Menschen und der einzigartigen Natur, für die wir bauen und in der wir bauen, Rechnung zu tragen.“
Im Falle der m.o.r.e Cabin hat man die Bedürfnisse klar erfüllt – mit einem „Less is m.o.r.e“-Entwurf. Denn manchmal ist weniger so viel mehr als genug.
Text: Daniela Schuster
Bilder: Scott Norsworthy; v2com newswire