Das ist Rocket Science
Die Schweiz hat eine Rakete am Start. Das Wohn-Hochhaus Rocket in der Winterthurer Lokstadt wird aus Holz gebaut und peilt eine Höhe von 100 Metern an. Wohnen soll hier künftig die 2000-Watt-Gesellschaft.
Dort, wo früher Dampf- und Elektrolokomotiven gebaut wurden, entstand in den 1990er-Jahren eine der ersten großen Industriebrachen der Schweiz. Auf dem sogenannten Sulzer-Areal in Winterthur sollte 1995 das Großprojekt Megalou von Stararchitekt Jean Nouvel umgesetzt werden. Ein Plan, der schließlich der Immobilienkrise zum Opfer fiel. Nach einer Reihe an kreativen Zwischennutzungen soll hier nun ein Ort entstehen, der neue Standards für die nachhaltige Stadtentwicklung in der Schweiz setzt.
Nach intensiven Gesprächen mit der Stadt Winterthur und einem Bürgerbeteiligungsprozess wurde der neue Masterplan in einer Volksabstimmung 2015 mit deutlicher Mehrheit angenommen. Der Schweizer Immobilienentwickler Implenia lobte daraufhin einen Architekturwettbewerb aus, den das dänische Architekturbüro Schmidt Hammer Lassen für sich entscheiden konnte.
Zugmaschinen des neuen Städtebaus
Als Referenz an seine Geschichte erhielt das Areal den Namen Lokstadt. Alle Gebäude des künftigen Stadtteils tragen die Namen von Lokomotiven, die hier einst gebaut wurden: Krokodil, Tigerli, Roter Pfeil, Elefant, Bigboy und Rocket. Diese beispielgebenden Bauprojekte rund um den Dialogplatz sollen als Zugmaschinen in ein neues Zeitalter des nachhaltigen Städtebaus führen. Einen großen Teil der neuen Lokstadt wollen Bauherren und Architekten im konstruktiven Holzbau umsetzen.
Mit dem Projekt Rocket will man den Holz-Hybridbau an seine statischen Grenzen führen. Ein Wohnhaus, das – wie der Name vermuten lässt – besonders hoch hinaus will. Mit seiner geplanten Höhe von 100 Metern ist es laut Entwickler „das höchste sich in Planung befindliche Holzwohnhaus der Welt“. Ein Titel, den allerdings auch andere Türme für sich beansprucht haben, so zum Beispiel das Woho Berlin, The Dutch Mountains in Eindhoven oder das 180-Meter-Holzbauprojekt des Softwareriesen Atlassian in Sydney.
Ein 2000-Watt-Areal
Gesichert ist jedenfalls, dass das Rocket zum Wahrzeichen der Lokstadt und diese zum neuen grünen Leuchtturmprojekt der ehemaligen Industriestadt Winterthur werden wird. „Der Baustoff Holz eignet sich für Großprojekte auch in einem städtischen Kontext sehr gut“, betont Adrian Wyss von Implenia.
Abgesehen vom nachwachsenden Baustoff Holz setzt die Lokstadt auf ganzheitliche Nachhaltigkeit. Dafür soll das gesamte Stadtviertel als 2000-Watt-Areal zertifiziert werden. Die Schweiz hat zurzeit einen Wert der stetigen Leistung von circa 5000 Watt pro Kopf. Das Ziel der 2000-Watt-Gesellschaft ist es, zu einem Energieverbrauch zurückzukehren, wie wir ihn in den 1950er-Jahren hatten. Und das möglichst ohne Komforteinbußen.
Statt die einzelnen Gebäude zu betrachten, fokussiert das Konzept der 2000-Watt-Areale auf das Areal und die Menschen als Einheit.
2000-Watt-Areal, Schweizer Umwelt-Zertifizierung
Dieses Schweizer Gütesiegel unterliegt nicht einer einmaligen, sondern einer langfristigen Evaluierung, die über den Lebenszyklus von einzelnen Immobilien hinausgeht. „Statt die einzelnen Gebäude zu betrachten, fokussiert das Konzept der 2000-Watt-Areale auf das Areal und die Menschen als Einheit“, wie es heißt. Durch diese Gesamtbetrachtung des Areals ließen sich wesentlich größere Effekte erzielen als mit mehreren unabhängigen Einzelgebäuden.
Klimafit in die Zukunft
Um das neue Stadtviertel möglichst gut auf die Auswirkungen des Klimawandels vorzubereiten, ließen Stadtplaner und Entwickler eine Klimaanalyse durchführen. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse sollen bei der Quartiersentwicklung umgesetzt werden. Die architektonische Verdichtung schafft zum einen vermehrt Schattenzonen in Bodennähe, ähnlich wie in einer Altstadt.
Zusätzlich sollen Dächer als begrünte Lebensräume gestaltet werden und so zu einer weiteren Kühlung des Mikroklimas beitragen. Zum anderen will man auf unversiegelte Flächen setzen, die durch Bäume, Büsche und Wasserlachen das Klima im Sommer regulieren.
Wohnbau als Co-Creation
In den 32 Stockwerken des Rocket wird es 93 Miet- und ebenso viele Eigentumswohnungen geben. Die neue Art der Urbanität, die man hier anstrebt, zeichnet sich nicht nur durch den Holzbau aus, sondern auch durch den Nutzungsmix und die individuelle Planung. Im Sockelbereich des Hochhauses soll es Gewerbeflächen, gemeinnütziges Wohnen und ein Hotel geben. Rocket und das siebengeschossige Nachbarhaus Tigerli werden voraussichtlich 2026 fertiggestellt und bezugsfertig sein.
Bei der sogenannten Co-Creation sollen Wohnräume im Dialog zwischen Anbieter und Kunden entstehen. So will man Ausstattung, Grundrissgestaltung und Preis-Leistungsverhältnis schon im Vorfeld möglichst an die Bedürfnisse der Kunden anpassen. Auf dieser Basis wurden zwei Wohnmodelle entwickelt – „Smart“ für den kompakten Wohnraum mit flexiblen Wänden und „Classic“ für die großzügige Eigentumswohnung mit Loggia.
Der Smart-Mieter hat zwar einen begrenzten Wohnraum, zusätzlich aber die Möglichkeit, einen Co-Working-Space im Gebäude anzumieten. Wenn das nicht Rocket Science ist.
Text: Gertraud Gerst
Visualisierungen: Ina Invest/Implenia