An der Ostküste Japans ist ein Bibliothek entstanden, die nicht nur tiefschürfend ist, was ihren Buchbestand angeht, sondern auch ihre Lage. Die Library in the Earth befindet sich unter der Erde und verbirgt einen spektakulären Holzkuppelbau.

An sonnigen Tagen die Felder pflügen und an regnerischen Bücher lesen. Dies war die Intention der Architekten, als sie an einem ungeahnten Ort eine Bibliothek errichteten: in einem Winkel des landwirtschaftlichen Kooperativprojektes Kurkku Fields nahe der japanischen Industrie- und Hafenstadt Kisarazu. Mutet der Ort schon ungewöhnlich an, so tut es die topografische Lage noch viel mehr. Während aus der Luft nur ein üppig bewachsenes Stück Land zu sehen ist, tut sich bei näherer Erkundung ein tropfenförmiger Einschnitt auf, der unter die Erdoberfläche führt. 

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Die Seitenwände der Bücherregal wachsen zu einer Kuppel nach oben und bilden das Tragwerk des Erzählsaals.

Dort eröffnet sich den Besucherinnen und Besuchern keine primitive Höhle, sondern eine stilvolle Bibliothek mit hochwertigen Holzregalen und heimeligen Lesenischen. Der Blick nach draußen ist von einem grünen Wulst gerahmt – der bewachsenen Erdschicht, die den gesamten Bau bedeckt. Es ist eine Oase der Stille, in der natürliche Materialien und die Schlichtheit des Mobiliars zusammenwirken. Die Bezeichnung „Bücherwurm“ bekommt angesichts der Library in the Earth eine ganz neue Bedeutung.

Organische Architektur

Das in die Erde Hineinbauen erinnert an den mexikanischen Architekten Javier Senosiain, der als Pionier und Vertreter der organischen Architektur gilt. Seine Casa Orgánica nördlich von Mexico City besteht aus höhlenartigen, runden Räumen, die zur Gänze in die Landschaft integriert sind. Lediglich ein paar grüne Hügel sind an der Oberfläche auszumachen.

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Ein Graswulst, der sich über die Betondecke wölbt, rahmt den Blick in die Natur.

Während die Strömung der organischen Architektur keinen einheitlichen Stil hervorbrachte, so strebten alle Vertreter nach der ultimativen Harmonie von Gebäude und Landschaft. Nach dieser Harmonie scheint auch der Entwurf des Architekturbüros Hiroshi Nakamura & NAP zu trachten, der die Bibliothek unter die landwirtschaftlich bestellten Felder verlegte. 

Im Namen von Mutter Natur

Die heutigen flachen Äcker der Kurkku Fields waren nicht immer flach, sondern sind einst durch topografische Veränderungen entstanden, indem man ein Tal kurzerhand mit Bauschutt auffüllte. Ein Handeln wider die Natur, das die Architekten im Rahmen ihres Projektes wieder rückgängig machen wollten. 

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Organisch eingebettet: Die Library in the Earth ist von außen kaum auszumachen.

Die Architektur sollte nicht die kultivierte Bodenschicht einnehmen, sondern bescheiden unter dem Gedeihen von Pflanzen und Mikroorganismen existieren.

Hiroshi Nakamura & NAP, Architekturbüro

„Unser Ziel war die Wiederherstellung des üppigen Tals, das zu dem Teich führt, den die Bauern Mutterteich nennen. Wir waren davon überzeugt, dass die Architektur nicht die kultivierte Bodenschicht einnehmen sollte, sondern bescheiden unter dem Gedeihen von Pflanzen und Mikroorganismen existieren sollte. Die Erde gilt als Ursprung allen Lebens und als Symbol der Mutterschaft.“

Ein Ort der bäuerlichen Einkehr

Die Library in the Earth bietet also Lesen mit Tiefgang, im übertragenen wie im wörtlichen Sinn. Das Zielpublikum der neuen Einrichtung ist durch die Lage vorgegeben. Der Ort ist den Landwirten gewidmet, die den Boden über dem Bauwerk beackern, entsprechend sind die Bücher thematisch sortiert. Ein Ort der bäuerlichen Einkehr also, wie es in der Beschreibung der Architekten heißt: „Unser Wunsch war es, die Erde einen Spalt weit zu öffnen und einen ruhigen Ort zu schaffen, an dem sich die Bauern ausruhen können.“

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Die Bibliothek ist den hiesigen Landwirten gewidmet und entsprechend sortiert.

Die Bibliothek wurden so gebaut, dass keine Säulen und Stützen im Inneren nötig waren, sodass sich ein offenes Raumgefüge ergibt. Der Raum zwischen dem Boden und der auskragenden Betondecke ist von edlen Holzregalen gefüllt. Der Bezug zur Erde wird auch im Inneren hergestellt: „Boden, Wände und Decke haben eine lehmartige Optik und gehen nahtlos ineinander über.“ 

Ein Kuppelbau aus Holz

Die jeweiligen Raumhöhen ergeben sich durch die Neigung des Bodens. So gibt es Bereiche mit niedrigen Decken und kleine, versteckte Nischen, die nur Kinder betreten können. Folgt man dem Gang tiefer in die Erde hinein, kommt man in einen kuppelartigen Raum, den Erzählsaal. Hier gibt es stufenweise ansteigende Sitzreihen für die Zuhörer. 

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Versteckte Lesenischen bieten Privatsphäre und einen Ausblick auf den Himmel.

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Auch im Erzählsaal ist der Sichtbezug nach oben durch ein Oberlicht hergestellt.

Unser Wunsch war es, die Erde einen Spalt weit zu öffnen und einen ruhigen Ort zu schaffen, an dem sich die Bauern ausruhen können.

Hiroshi Nakamura & NAP, Architekturbüro

Bemerkenswert ist das Holztragwerk, das sich aus den geschwungenen Verlängerungen der Regalwände ergibt. Sehr organisch wächst das Möbel nach oben, wo es in einem Oberlicht endet. Auch wenn die einzelnen Stützen nur eine Stärke von vier Zentimeter aufweisen, so bilden sie durch die kreisförmige Anordnung eine ausreichende Stabilität, um die Lasten abzutragen. 

Es ist dasselbe Prinzip wie beim Jahrtausende alten Kuppelbau, nur in diesem Fall in Holz ausgeführt. Das Oberlicht in der Mitte symbolisiere die landwirtschaftliche Gemeinschaft von Kurkku Fields und erinnere durch den Blick auf den Himmel an die Erde, so Hiroshi Nakamura & NAP. „Es ist eine Bibliothek, die an die Erde denkt.“

Text: Gertraud Gerst
Fotos: Koji Fujii / TOREAL

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