Leiden „entstaubt“ die Meelfabriek
Ein Prunkstück des industriellen Erbes der Niederlande wird endlich wiederbelebt: Das Pariser Studio Akkerhuis verwandelt Leidens lang verwaiste „Meelfabriek“ in ein modernes Stadtquartier – ohne an ihrem historischen Wert zu kratzen.
Das schönste Bauwerk macht nicht froh, wenn man es nicht mehr nützen kann. So kam es, dass Leidens 1988 stillgelegter Meelfabriek sogar schon mal der Abbruch drohte. Obwohl zur Gründungszeit 1884 als hochmodern bejubelt, bis in die 1970er Jahre stetig ausgebaut und insgesamt architektonisch einzigartig. Zum Glück wurde die einst stolze Getreidemühle Ende der 1990er vom Projektentwickler Ab van der Wiel gekauft und 2000 unter Denkmalschutz gestellt. Damit blieb die Meelfabriek zwar von Abrissbirnen verschont. Doch es sollte dauern, bis sich der Traum von neuem Leben in den alten Mauern seiner Erfüllung nähern durfte.
Neues Leben fürs Industriedenkmal
Erst wurde der Schweizer Architekt Peter Zumthor beauftragt, einen Masterplan für die neue Nutzung der Meelfabriek zu konzipieren. 2014 kam das Büro David Chipperfield Architects zum Zug. Die Umsetzung beider Konzepte blieb jedoch aus. Das wegen seiner Bedeutung fürs industrielle Erbe der Niederlande als nationales Denkmal geachtete Areal in Zentrumsnähe blieb unzugänglich und ungenützt. Ein Dämmerzustand, der jetzt ein Ende haben soll: Das Pariser Studio Akkerhuis verwandelt die Anlage in ein modernes Stadtquartier.
Das Akkerhuis-Team bringt Peter Zumthors Masterplan quasi auf die nächste Ebene: Der darin vorgesehene, radikale Rückbau unterbleibt. Die Ikonen der industriellen Ära werden erhalten und als Räume mit neuem Zweck neu entwickelt. Die Fassaden werden restauriert und den neuen Funktionen angepasst.
Facettenreiches Großprojekt
Durch Materialien wie Beton, Stahl und Glas wollen die Architekten den ursprünglichen industriellen Charakter des Komplexes unterstreichen. Und das Großprojekt, dessen erste Bauphase sich dem Abschluss nähert, hat viele spannende Facetten.
Das größte Gebäude der postindustriellen Entwicklung der Meelfabriek ist der 40 Meter hohe Getreidesilo. Aus diesem ehemaligen Kornspeicher wird jetzt das „Hotel Meelfabriek“. Das monolithische Äußere und majestätische Innere sollen bewahrt werden. Die Rauheit des Sichtbetons soll sich zu roher Schönheit wandeln.
Silo wird zum Hotel
Durch eine Inside-Out-Transformation passt jeder Raum in die durchgehend vertikale Struktur. Die erhaltenen, schwindelerregenden Hohlräume betonen diese Vertikalität auf jeder Etage. Sie durchqueren die gesamte Höhe des Gebäudes. Zugang und Service der Hotelzimmer wird über Hängebrücken erfolgen. Die Raumfenster werden durch einen geradezu „chirurgischen“ Eingriff in die monolithische Fassade gesetzt.
Sowohl die untere als auch die obere Ebene des Hotels werden öffentlich zugänglich gestaltet. Das Erdgeschoss ist als flexibler Veranstaltungsraum konzipiert. Dieser wird mit der Hotellobby, der Singel Channel Marina und den kommerziellen Bereichen verbunden.
Ein Ballsaal als Wahrzeichen
Von dort aus führt ein Panorama-Kern mit Außentreppen aufs Dach, wo Bar und Restaurant auf Besucher warten. Und damit nicht genug: Am höchsten Punkt der Meelfabriek entsteht ein Ballsaal mit einem Spiegelglasvolumen von 10 mal 10 mal 10 Metern und 360-Grad-Blick über die Stadt. Die Würfelglasfassade soll tagsüber die Umgebung spiegeln. Nachts soll sie zum leuchtenden Wahrzeichen des neuen Stadtviertels werden.
Die Gebäude Molengebouw und Riffellokaal definieren den Rand des Meelfabriek-Komplexes. Sie verbinden mit der Hauptpiazza, den Parks und neuen benachbarten Wohnhäusern. Die Kombination aus Backsteinfassade, Bandfenstern und dem eleganten Stahlrahmen ergibt ein außergewöhnliches Ensemble. Und zwar eines, das die Geschichte des Komplexes würdigt.
Komfort in alten Mauern
Die freiliegende Stahlkonstruktion wird zum Hauptmerkmal des Innenraums und betont den industriellen Charakter. Zu den restaurierten, schlanken Stahlfenstern kommen neue französische Balkone. In die Backsteinfassade werden Fenster gesetzt. Sie sollen den künftigen Nutzern dieses Wohngebäudes spektakulären Blick auf Stadt, Park und Wasser bieten.
Die Loft-Apartments sind so offen und flexibel wie möglich angelegt. Ihre doppelte Raumhöhe, zweiseitige Ausrichtung und Wintergärten sollen besonderen Komfort bieten.
Stählerner Charme
Eine Erweiterung aus Stahl und Glas auf dem Dach fasst die beiden vorhandenen Gebäude zu einem Komplex zusammen. Das gewerbliche Erdgeschoss indes ist als offener Raum konzipiert. Mit seinem Durchgang wird es zur Verbindung der öffentlichen Räume des Masterplans. Von hier aus sorgen zwei neue Servicekerne für die vertikale Zirkulation jedes Trakts bis zur Dachverlängerung.
Unter der zentralen Grünfläche der Meelfabriek verbirgt sich eine wichtige Komponente des neuen Plans: Das dreistöckige Parkhaus. Und über einer seiner Ecken ragt der 50 Meter hohe, aus Beton gebaute Singel-Turm empor.
Die neue Eleganz der Meelfabriek
Der Turm ist in drei verschiedene Bände zerlegt. So fügt er sich optisch perfekt in die Vielfalt der Gebäude ringsum ein. Der Westturm erhält durch die Zerteilung exquisit-schlanke Eleganz. Inspiriert wurde das Design von den besonderen Eigenschaften der denkmalgeschützten Meelfabriek.
Der strukturelle Betonrahmen wird vor Ort gegossen und bleibt sichtbar. Die Kombination von Material und detailgetreuer Fassade schafft ein authentisches Bauwerk. Und dieses steht in engem Konnex mit der funktionalen Gestaltung der vorhandenen Gebäude.
Der tragende Rahmen wird aus der Hülle nach außen geschoben. So entstehen loftartige Wohnungen ohne Säulen. Im Erdgeschoss soll Einzelhandel Besucher locken. Damit wird auch dem Gesamtkonzept entsprochen. Denn dieses sieht vor, die Bodenebene der Meelfabriek mit frei zugänglichen Angeboten zu beleben.
Ehrwürdige Säulenhalle
Ein weiterer, wichtiger Teil der Meelfabriek ist das Meelmagazijn. Es befindet sich am zentralen Platz entlang des Singel-Kanals. In der interessanten Betonstruktur des ursprünglichen Gebäudes ruht ein kultiges Element: Die Säulenhalle.
Alte Werte, sichtbar gemacht
Die Umgestaltung betont Besonderheiten, indem sie sie von außen sichtbar macht: Die vorhandene Ziegelfassade wird einem vollständig verglasten Volumen Platz machen, das in die Betonkonstruktion passt. Das bestehende Gebäude wurde um drei Stockwerke erweitert. Im Zuge dieser Veränderung werden alter Beton und neue Glaskonstruktion stimmig verbunden. Die vertikale Zirkulation ist um eine vorhandene Metallspirale herum organisiert – also um ein Relikt aus alter Zeit, das einst zum Materialtransport diente.
Auch das Meelmagazijn beherbergt im neuen Plan Wohnungen. Genauer gesagt: Geräumige High-End-Lofts mit Aussicht in mehrere Richtungen und Balkonen. Im Inneren definieren hier Betonsäulen die Räume. Erdgeschoss und erste Ebene sind für Gewerbeflächen reserviert. Diese erweitern den öffentlichen Bereich der Meelfabriek bis zur Uferpromenade des Kanals. Dort sollen bald einladende Terrassen Besucher locken.
Ein „Neuling“ im Ensemble
Ein Novum im ehrwürdigen Meelfabriek-Komplex ist das klare, massive „Silogebouw D“. Es wird auf der Grundfläche des bestehenden Gebäudes errichtet. Geschichte und Lage entlang des Kanals machen es essenziell für das neue „Meelfabriek-Gesicht“. In seinen oberen Etagen hebt es sich von den historischen Teilen Ketelhuis und Schoonmakkerij ab. Der Spalt, der sie trennt, eröffnet vom Park her den Blick aufs Hotel. Damit wird das für die Meelfabriek charakteristische Spiel verschiedener Tiefen zusätzlich hervorgehoben.
Um die Gesamtstruktur weniger massiv wirken zu lassen wird das obere Volumen durch einen Hohlraum von der Basis gelöst. Die vorhandene Kuppel des Ketelhuis wird hervorgehoben. Dadurch wird die Beziehung der beiden Bauten zueinander verstärkt. Die Säulen des Exoskeletts verleihen der Fassade Regelmäßigkeit, die je nach Blickwinkel ins Innere schauen lässt – oder eben nicht.
Spa & Kunst im Bauch der Meelfabriek
Dort, „im Bauch“ des mehrteiligen Bauwerks, wird ein buntes Programm geboten: Das „Azzurro Spa“ belegt die vier ersten, gemeinsamen Ebenen der drei Gebäude. Im oberen Bereich befinden sich die „Silogebouw Apartments“ mit Top-Aussicht über die Stadt Leiden. Der Schoonmakkerij-Trakt hingegen beherbergt an der Spitze des hinzugefügten Volumens moderne Büros. Und oben, im Hohlraum über der Basis, residiert ein Kunstzentrum.
Für die Umsetzung des Großprojekts hat sich Studio Akkerhuis die Spezialisten Piet Oudolf, Lola Landscape, Pieters Bouwtechniek und LBP Sight mit ins Boot geholt. Natürlich spielt auch Nachhaltigkeit eine gewichtige Rolle im Konzept der Architekten. Und zwar in allen Facetten – von Material-Recycling, Stromversorgung aus erneuerbaren Quellen und smartem Monitoring des Energieverbrauchs bis zu E-Ladestationen, Rad- und Elektroboot-Verleih.
Bis wann die neue Meelfabriek insgesamt vollendet werden kann, ist derzeit noch offen. Klar ist jedoch, dass die elegante Kombination aus historischen und modernen Strukturen sie wieder zu einem Highlight Leidens machen wird.
Plan aus preisgekrönter Hand
Dass das Studio Akkerhuis sein Handwerk perfekt beherrscht, belegen Auszeichnungen wie der Innovationspreis Bas Carbone (Biennale von Bordeaux 2017) und Architectural Record Design Vanguard (2016). Und für das Meelfabriek Projekt selbst erhielten die Architekten beim World Architecture Festival 2019 einen der begehrten „Future Project“-Awards.
Die Chancen für weitere Ehren stehen auch nicht schlecht. Schließlich sind spektakuläre Revitalisierungen verwaister Industrieanlagen zusehends gefragt. Und sie stoßen international auf großes Interesse, wie etwa Henning Larsens Projekt der Danziger Werft oder Renzo Pianos GES-2-Transformation in Moskau beweisen.
Leidens neue Architektur-Highlights
Ganz abgesehen davon macht Leiden jüngst auch durch andere aufsehenerregend neue Bauten wie das Naturalis Biodiversity Center von sich reden. Der Wiederauferstehung eines Herzstücks der Geschichte dieser Stadt dürfte also kaum auf geringeres Interesse stoßen.
Text: Elisabeth Schneyder
Bilder: Studio Akkerhuis, Corentin Haubruge