„Kultur-Kraftwerk“ á la Renzo Piano
Geht es um die Zukunft der einstigen Energieversorgungsanlage GES-2 in Moskau, wird Spannung längst nicht mehr in Volt gemessen. Denn Star-Architekt Renzo Piano verwandelt den Komplex in ein „Kultur-Kraftwerk“, das seinesgleichen sucht.
Welche Art Gebäude wäre perfekt, um Raum für zeitgenössische Kultur zu schaffen? Ein Kraftwerk! So sieht es jedenfalls der italienische Star-Architekt Renzo Piano. Und in Moskau fand er, was er suchte: Das zwischen 1904 und 1908 errichtete Stromkraftwerk GES-2. Eine historische, nur einen Katzensprung vom Kreml entfernte Anlage, die seit ihrer Stilllegung ungenutzt vor sich hindämmerte. Genau dort entsteht derzeit Pianos gespannt erwartetes, neues „Kultur-Kraftwerk“, das noch in diesem Jahr eröffnet werden soll.
Historisches Gebäude, moderne Kultur
Das Konzept des Renzo Piano Building Workshop (RPBW) verwandelt das verwaiste Kraftwerk in ein innovatives Kulturzentrum. Behutsam restaurierte historische Elemente prägen den Charakter der Anlage. Visuelle und darstellende Kunst, Musik, Wissenschaft und mehr: All dies soll hier optimal präsentiert werden.
Im fast 20.000 Quadratmeter großen GES-2-Gebäude wird es vier Hauptbereiche geben: Die „Bürgerzone“ besteht aus einer Kombination von frei zugänglichen Räumen und Aktivitäten. Durch die Öffnung zur Outdoor-Piazza soll das Moskauer „Streetlife“ ins neue Kulturkraftwerk geholt werden.
Startpunkt Indoor-Piazza
Im Zentrum des in Kooperation mit dem Moskauer APEX Projektbüro entworfenen Designs bildet eine Indoor-Piazza das Entree zum Kultur-Erlebnis. Und im damit verbundenen Nordteil finden sich eine Bibliothek und ein Medienzentrum. Im südlichen Teil indes laden Kunst-Installationen und Restaurant zum Besuch.
Die „Willkommenszone“ liegt in der Mitte des Hauptgebäudes und ist von der Indoor-Piazza aus zugänglich. Im Erdgeschoss warten hier Ticket-Office, Info-Zentrale und Shops auf interessierte Gäste.
Zonen für Ruhe und Genuss
Oben bietet eine offene Veranstaltungsfläche mit Sitz-Deck freien Blick auf die „Wald“ genannte Grünanlage. Außerdem sind hier im Zwischengeschoss ein geschlossenes Auditorium mit separatem Zugang, ein Café und eine Snackbar vorgesehen.
Der dritte Hauptbereich in Renzo Pianos Konzept beherbergt die Ausstellungen. Er bietet unterschiedlich große Einheiten mit ebenso unterschiedlicher Raumhöhe. Damit wird sichergestellt, dass verschiedenste Werke das jeweils beste Umfeld finden.
Bildungsstätte „Kultur-Kraftwerk“
Der „Bildungsbereich“ gibt einen Einblick in die Ausstellungen. Hierzu zählt auch die School of Art, die sich der Förderung einer neuen Generation von Kunstkuratoren, Kritikern und Historikern widmet.
Außerdem hat hier „Lebenslanges Lernen“ seinen Sitz – mit Klassenzimmern und Workshops für die breite Öffentlichkeit. Zudem werden in diesem Bereich Wohnungen für Künstler bereitgestellt, die in Werkstätten im Nordturm ihrer Arbeit nachgehen.
Ein Glasdach soll für natürliches Licht im grandios sanierten Komplex sorgen. Denn der inzwischen über 80-jährige Meister Renzo Piano widerspricht all jenen, die behaupten, dass man in Moskau nie die Sonne sehe.
Man sagt, dass man in Moskau die Sonne nicht sieht. Das stimmt nicht. Diese Stadt hat ein vibrierendes Licht
Star-Architekt Renzo Piano
Die Lichtverhältnisse der russischen Metropole hätten sogar einen eigenen, besonderen Charakter. Und das Gebäude werde ihre Farbe annehmen.
Nachhaltigkeit im Fokus
Natürlich haben der italienische Star-Architekt und sein Team auch daran gedacht, das Kulturzentrum nachhaltig zu gestalten. So sollen etwa Solarpaneele und geothermische Anlagen für saubere, sparsame Energieversorgung garantieren.
Die vier Ziegelschornsteine des historischen Kraftwerks werden in solche aus Stahl umgewandelt. Aus den alten, umweltschädlichen Rohren sollen nachhaltigere werden. Dank moderner Technik werden diese, wie die Architekten erklären, in 70 Metern Höhe sauberste Luft auffangen, natürliche Belüftung aktivieren und den Energieverbrauch senken.
Renzo Piano pflanzt dem Museum einen Wald
Weil ein modernes Projekt selbstverständlich Grünzonen braucht, ist auch Natur ein prominenter Teil des Entwurfs. Und hier hat sich Renzo Piano ein besonderes Extra einfallen lassen: Im Inneren des Museumgeländes wird ein „Wald“ aus Birken gepflanzt.
Skulpturengarten & Theaterbühne
An der Westseite soll das Gebäude bald gänzlich von Bäumen verdeckt werden. Dazu muss die Bodenebene, unter der eine zweistöckige Parkgarage vorgesehen ist, angehoben werden. Im Birkenwald entstehen ein Skulpturengarten und eine Theater- und Konzertbühne.
Der Renzo Piano Building Workshop definiert zwei Leitgedanken seiner GES-2-Strategie. Punkt eins: Das Konzept des Kulturzentrums soll es den Besuchern ermöglichen, sich von der eigenen Intuition leiten zu lassen: „Idealerweise wird man keinen Plan brauchen“.
Pralle Vielfalt, elegant verbunden
Punkt zwei ist ein klar erkennbares „Zirkulationsnetz“ aus Treppen, Liften, Korridoren und Plattformen. Dieses soll alle Bereiche und Aktivitäten zu einem großen Ganzen verbinden, das – wie eine räumliche Skulptur – als Einheit empfunden wird. Die Eingänge am Bolotnaya Ufer und die Fußgängerbrücke, die zum neuen Museumsgelände führt, werden dabei hervorgehoben.
Finanziert wird das Projekt von Leonid Mikhelson, dem Chef des Energie-Giganten Nowatek. Der Milliardär war es auch, der 2015 mit der Idee der umfassenden GES-2-Neugestaltung an Renzo Piano herantrat.
Im Auftrag des Magnaten
Mikhelsons V-A-C Foundation ist im Fall des aufsehenerregenden Kulturkraftwerks allerdings nicht nur Auftraggeber, sondern soll dort künftig auch für soziale und kulturelle Erlebnisse besonderer Art sorgen. Dabei will die Stiftung, zu deren Sammlung etwa Werke von Wassily Kandinsky, Gerhard Richter und Christopher Wool zählen, Synergien mit lokalen Einrichtungen nützen.
Schließlich liegt GES-2 im „Roter Oktober“ genannten Viertel der Moskauer Bolotny-Insel in der Moskwa – also in jenem belebten Kulturbezirk, der gezielt für jüngere Generationen gestaltet wurde.
Würdige Nachbarschaft „Roter Oktober“
Schlüsselelement dieser Nachbarschaft ist etwa die namensgebende Schokoladenfabrik „Roter Oktober“. Längst aufgelassen, wurde sie zu einem Container für Start-Ups, Cafés und Restaurants umgebaut. Auch das historische, sanierte Udarnik Lichtspiel-Theater residiert auf der Insel. Ebenso, wie das gemeinnützige internationale Strelka Institut für Medien, Design und Architektur.
Gemeinsam mit diesen Institutionen soll Renzo Pianos faszinierendes Projekt das aufstrebende Viertel zur gefragten Destination für Moskaus Bevölkerung, ganz Russland und Besucher aus aller Welt machen.
Bedeutende Projekte
Auf großes Interesse stößt das Kultur gewordene Stromkraftwerk schon jetzt. Immerhin gehört Piano zur Welt-Elite der Architektur. Aktuell sorgt auch die für den Winter 2020 geplante Fertigstellung seines Oscar-Museums in Los Angeles für Aufsehen. Und die Eröffnung des ebenfalls vom italienischen Meister geplanten Brückenbaus in Genua, der die 2018 fatal eingestürzte Morandi-Brücke ersetzen wird, steht lokalen Medien zufolge unmittelbar bevor. Allesamt bedeutende Projekte. Und alle mit jener Hochspannung erwartet, die in Volt nicht zu messen ist.
Text: Elisabeth Schneyder
Bilder: Renzo Piano, RPBW, V-A-C / Gleb Leonov