Junge Ideen für alte Industrieanlagen
Die „Russische Biennale für junge Architekten“ ist selbst noch jung: Seit 2017 fördert sie unter 35-jährige Talente. Thema der zweiten Runde: Die Revitalisierung alter Industrieanlagen. Und die prämierten Entwürfe stecken voll spannender Ideen.
Hell, offen, mit Pool und Sonnendeck. Futuristisch, mit viel Glas und Stahl. Oder auch romantisch, mit Grün und Ziegelbau. Was junge russische Architekten aus alten Industrieanlagen machen würden, hat viele Gesichter. 30 davon zeigt das Berliner Aedes Kulturforum von 14.März bis 29.April in einer aktuellen Ausstellung. Denn die Entwürfe, die zur zweiten „Russischen Architekturbiennale für junge Architekten“ eingereicht wurden, liefern spannende Ideen. Und diese sind mehr als reine Fantasieprojekte.
Konkrete Vorgaben, reale Vorhaben
Schließlich hatte die weltweit einzige Biennale, die sich ausschließlich der Förderung junger Architekten widmet, sehr konkrete Vorgaben gesetzt. Es galt, Konzepte für die Neugestaltung zweier brach liegender Areale in Kasan, der Hauptstadt Tatarstans, zu liefern: Für das Gelände eines Getreidespeichers im Hafen und für die ehemalige Fabrik Santekhpribo.
Die „Russische Biennale für junge Architekten“ wurde 2017 vom Ministerium für Wohnungsbau und kommunale Dienste der Russischen Föderation und der Regierung der Republik Tatarstan ins Leben gerufen. Ihr Ausrichtungsort ist die oft als „Russlands Silicon Valley“ bezeichnete Stadt Innopolis, die – unweit von Kasan – am Wolga-Ufer liegt. Zur Teilnahme eingeladen sind russische Architekten unter 35 Jahren.
Den Gewinnern der Biennale winken Aufträge für reale Projekte in Tatarstan. Außerdem dürfen sie an der Seite international renommierter Experten über die Sieger des jeweils nächsten Wettbewerbs mitentscheiden.
Großer Andrang, honorige Jury
Die Zahl der Bewerber ist groß, die Jury hochkarätig besetzt. Als Kurator der zweiten Biennale und Jury-Vorsitzender fungierte Sergei Tchoban, der die Büros SPEECH (Russland) und Tchoban Voss Architekten (Deutschland) leitet und 2018 mit dem Europäischen Architekturpreis ausgezeichnet wurde.
Die Jury dieses zweiten Bewerbs stellten: Michiel Riedijk, Gründer und Partner von Neutelings Riedijk Architects und Professor an der Technischen Universität Delft (Niederlande). Philip Yuan, Co-Vorsitzender des Built Environment Technology Center der Washington University und Direktor des Akademischen Komitees des Shanghai Technology Center for Engineering Digital Design. Und Kristin Feireiss, Kuratorin und Mitbegründerin der unabhängigen Architekturgalerie Aedes Architecture Forum in Berlin und Mitglied der Pritzker-Preis-Jury. Direktorin der Biennale für junge Architekten ist Nataliya Fishman-Bekmambetova, Beraterin des Präsidenten von Tatarstan.
Für die zweite Runde der Russischen Biennale für junge Architekten, die im vergangenen Herbst über die Bühne ging, waren aus über 700 Bewerbern 30 Teilnehmer ausgewählt worden. Ihre Aufgabe war es, Entwürfe für die Neugestaltung der beiden Industriestandorte in Kasan zu entwickeln. Auf beiden, jeweils rund fünf Hektar großen Arealen befinden sich derzeit Reste alter Industrieanlagen und Ruinen leerstehender Gebäude.
Neue Zukunft für verwaiste Industriebauten
Die jungen Architekten hatten Szenarien für die Umnutzung eines der beiden verwaisten, für die Öffentlichkeit gesperrten Industriegelände zu konzipieren. Und zwar so, dass die neuen Funktionen langfristig wirtschaftlich tragfähige und sozial verantwortliche Transformationen ermöglichen.
Die daraus entstandenen Entwürfe spiegeln die Geschichte des jeweiligen Standorts wider und liefern vielfältige Ideen zu dessen Revitalisierung. So verwandelt etwa das mit einem Goldenen Preis prämierte Konzept für die Neugestaltung des Getreidespeichers im Hafen (siehe auch Beitragsbild oben) das Areal in eine helle, offene Anlage mit Schwimmbad und Sonnendeck. „Silber“ ging indes an eine Variante, die für dasselbe Gelände einen dichten Komplex mit Turm und Promenade vorschlägt.
Ausstellung im Berliner Aedes Forum
Das Berliner Aedes Architekturforum zeigt eine detaillierte Präsentation aller 30 Arbeiten der zweiten Russischen Architekturbiennale für junge Architekten. Die Entwürfe der acht Preisträger werden auf Ausstellungstafeln und zusätzlich anhand von Modellen vorgestellt. Außerdem sind Filme zu sehen, in denen die jungen Architekten über ihre Arbeiten und die Bedeutung des Wettbewerbs für ihre berufliche Laufbahn sprechen.
Die Problemstellung der Biennale ist hochaktuell. Denn viele Städte in Russland, aber auch in anderen Weltregionen, stehen heute vor der Frage, wie ehemalige Fabriken und Manufakturen künftig sinnvoll genützt werden könnten. Die Strategie der Transformation alter Industrieanlagen und ihres Gebäudebestands hat entscheidenden Einfluss auf das Erscheinungsbild von Ballungsräumen. Zudem spielt sie oft eine gewichtige Rolle für die Lebensqualität im Umfeld der stillgelegten Anlagen.
Die Aktualität des Themas belegen auch die Konzepte international erfolgreicher Architekturbüros, die derzeit entsprechende Projekte realisieren. Von der Revitalisierung der alten Kaiserlichen Werft in Danzig oder der Belfast Waterside zu vielen Teilnehmer-Entwürfen des „Reinventing Cities“-Wettbewerbs: Zukunftsfitte Stadtentwicklung durch die nachhaltige Nutzung brachliegender Industrieanlagen ist gefragt – und ein Anliegen, das innovativer Ideen bedarf.
Alte Industriebauten, junge Nutzungs-Ideen
Auch wenn die Entwürfe der zweiten Russischen Biennale für junge Architekten nicht unbedingt eins zu eins realisiert werden, bieten sie interessante Anregungen zur Revitalisierung von Industriebrachen.
Zudem hat die Austragungsregion des Wettbewerbs ihrerseits einiges zu bieten. Man hat hier viel Erfahrung mit der Realisierung von Projekten im öffentlichen Raum. Ebenso, was Bauten für die Allgemeinheit betrifft, an deren Konzeption häufig junge Architekten beteiligt waren. Das von der Republik Tatarstan initiierte Programm zur Entwicklung des öffentlichen Raums wurde 2019 als erstes Projekt in Russland mit dem Aga-Khan-Preis für Architektur ausgezeichnet.
Gute Gründe, sowohl der Biennale und ihrem Austragungsort, als auch den Ideen der jungen russischen Architekten Aufmerksamkeit zu schenken.
Text: Elisabeth Schneyder
Bilder: The Institute for Urban Development of the Republic of Tatarstan