Upcycling im Großformat
Dank einer beherzten Initiative wurden die Schalungselemente des neuen Stuttgarter Tiefbahnhofs nicht thermisch verwertet, sondern zum Bauen von neuen Strukturen verwendet. Im Reallabor Stuttgart 210 ist daraus der Jugendtreff Ingersheim entstanden.
Für eine Wand aus Beton muss man drei Wände bauen: Die eigentliche Betonwand und zwei Wände aus Holz, die nach dem Bauen auch noch abgerissen werden müssen.“ So treffend formulierte der spanische Architekt Victor López Cotelo den sehr ressourcenintensiven Prozess von Ortbeton. Kommt der mineralische Baustoff zum Einsatz, fällt nämlich nicht nur jede Menge CO2 bei seiner Herstellung an, in vielen Fällen müssen auch noch eigene Schalungswände gefertigt werden. So auch im Fall des milliardenschweren Bauprojekts Stuttgart 21, das der sechstgrößten Stadt Deutschlands einen achtgleisigen Tiefbahnhof beschert. 28 skulpturale Lichtaugen lassen natürliches Tageslicht auf die tiefgelegten Bahnsteige fallen, wenn der Bau – voraussichtlich 2026 – in Betrieb genommen wird. Für die imposanten Kelchstützen dieser Lichteinlässe wurden komplexe Betonschalungen aus Brettsperrholz gefertigt.
Diese Bauelemente mit einem Volumen von 5.000 Kubikmeter BSP haben nach dem Aushärten des Betons eigentlich ihre Aufgabe erfüllt. Die Pläne sahen vor, dass aus einem Teil Holzfaserdämmstoff entsteht, der Rest sollte thermisch verwertet werden. Ein Vorgehen, bei dem nicht nur Herstellungsenergie verpulvert, sondern auch das CO2, das im Holz gebunden ist, vorschnell wieder freigesetzt wird. Damit das nicht geschieht, tat sich eine Gruppe aus Architekten und Ingenieuren zusammen. Gemeinsam gründeten sie das Forschungsprojekt „Stuttgart 210: Weiterdenken – weiterbauen!“
Räume als dreidimensionales Puzzle
Unter diesem Leitsatz sind in verschiedenen Reallaboren in Baden-Württemberg Bauwerke entstanden, die auf den Schalungselementen des neuen Stuttgarter High-Tech-Bahnhofs basieren.
Es war ein Bauen, das konträr zum herkömmlichen Entwurfsprozess eines Architekten verlief. „Wir hatten am Anfang keine Nutzung und keinen Entwurf. Stattdessen haben wir geschaut, welche Kombination mit diesen Schalelementen möglich ist, um neue Räume entstehen lassen zu können“, erzählt Roman Kreuzer von der Hochschule Konstanz, der das Projekt Stuttgart 210 leitet.
Wir hatten am Anfang keine Nutzung und keinen Entwurf. Stattdessen haben wir geschaut, welche Kombination mit diesen Schalelementen möglich ist.
Roman Kreuzer, Hochschule für Technik Stuttgart
Beim ersten von insgesamt vier Reallaboren kamen die Elemente vom Personentunnel Südkopf für einem Entwurf von Klingelhöfer Krötsch Architekten zum Einsatz. In einer Art dreidimensionaler Puzzlearbeit wurden diese zu Wänden und Decken des neuen Jugendtreffs in der 6.000 Einwohner zählenden Gemeinde Ingersheim zusammengefügt.
Der örtlichen Bürgermeisterin Simone Lehnert gelang es, eine breite Unterstützung für das Projekt in der Gemeinde zu erlagen. Daher konnte der Bau mit vielen ehrenamtlichen Helfern und Handwerksbetrieben umgesetzt werden.
Raum mit sakraler Anmutung
Während die 12 Schalungselemente einen Innenraum schaffen, der sich teils nach innen, teils nach außen wölbt, bildet die geschwungene ovale Hülle die konstruktive Klammer, die alles zusammenhält. Diese Hülle besteht aus Fichtenbrettern und -leisten und wurde von Innenarchitektur-Studenten des IMIAD-Masterstudiengangs an der HFT Stuttgart vorgefertigt und montiert.
Das Ingersheimer Reallabor kann einen wesentlichen Diskussionsbeitrag zu Klimaschutz und Kreislaufwirtschaft leisten, um die Grenzen des bisher Möglichen und Vorstellbaren zu verschieben.
Klingelhöfer Krötsch Architekten
Dort, wo Gebäudehülle und Schalungen aufeinander treffen, ergeben sich kleine Nischen, in denen elegant geschwungene Sitzbänke eingepasst sind. Insgesamt ist ein Jugendzentrum entstanden, das ein markantes und charaktervolles Raumgefüge aufweist. „Mit seinem kreuzförmigem Grundriss, seiner relativ großen Raumhöhe und seiner spitzgewölbeförmigen Decke hat der Holzbau quasi sakrale Anmutung“, heißt es vonseiten Klingelhöfer Krötsch Architekten.
100 Prozent naturbasierte Baustoffe
Hinzu kommt das identitätsstiftende Element, das die Entstehungsgeschichte und der Re-Use-Gedanke mit sich bringen. Abgesehen vom Fundament besteht das Gebäude aus fast 100 Prozent biogenem und großenteils wiederverwendetem Material. Durch den Holzbau bleibt in der Struktur auf lange Zeit CO2 gebunden, während gleichzeitig die Zirkularität der Materialströme gesichert ist.
Damit geht das Projekt exemplarisch die großen Herausforderungen an, mit denen die Braubranche aktuell konfrontiert ist. „Das Ingersheimer Reallabor kann einen wesentlichen Diskussionsbeitrag zu Klimaschutz und Kreislaufwirtschaft leisten, um die Grenzen des bisher Möglichen und Vorstellbaren zu verschieben“, erklärt das Architekturbüro.
Text: Gertraud Gerst
Fotos: Achim Birnbaum, Jannik Walter