Wohnen im Stapel
Zirkulär, naturnah und klimapositiv. Das Projekt Juf Nienke der Architekturbüros SeARCH und RAU gilt als das nachhaltigste Wohnbauprojekt Amsterdams. Die Holzbaumodule sind erweiterbar und für den Insektenschutz sorgt ein Fledermaushotel am Dach.
Ein sicheres Indiz für die akute Wohnungsknappheit in den Niederlanden ist der alljährliche Warnruf der hiesigen Universitäten an ihre ausländischen Studierenden: Wer bis August noch keine Unterkunft hat, der möge lieber zuhause bleiben. Die Hoffnung, dann noch eine leistbare Bleibe zu finden, ist nämlich aussichtslos. Die Lage am Wohnungsmarkt in dem hoch verstädterten Land ist seit Jahren extrem angespannt. Aktuellen Schätzungen zufolge fehlen derzeit rund 400.000 Wohnungen. Betroffen sind neben Studierenden auch Berufseinsteiger, junge Familien und Migranten. Wie ernst die Lage ist, zeigt sich auch daran, dass die Zahl der Obdachlosen zuletzt um ein Viertel gestiegen ist.
Kreativ gegen die Wohnungsnot
Vertraute die Regierung in der Vergangenheit darauf, dass sich der Markt selbst reguliert, haben die exorbitant gestiegenen Preise und die prekäre Wohnungsnot bei zugleich hohen Leerständen zu einem Einlenken geführt. Seit einem Jahr ist nun ein neues Mieterschutzgesetz in Kraft und kreative Instrumente sollen bei der Schaffung von zusätzlichem Wohnraum helfen.
Neben der Strategie neues Bauland durch künstliche Inseln zu erschließen, wie der spektakuläre Bau Sluishuis in Amsterdams neuem Stadtteil IJburg zeigt, werden auch leerstehende Klöster, Krankenhäuser und Schulen zu kommunalen Wohnbauten transformiert. In vielen Gemeinden setzt man auch auf den sogenannten Flexbau. Das sind modulare Wohneinheiten, die sich wie überdimensionale Legosteine zusammensetzen und schnell realisieren lassen. Je nach Bedarf können die Module erweitert oder wieder abgebaut werden.
Als niederländische Architekten sind wir uns der Landknappheit bewusst und fest davon überzeugt, dass wir diese Ressource intelligenter einsetzen müssen, um der Natur mehr Raum zum Überleben zu geben.
SeARCH, Architekturbüro
Urbaner Wabenbau aus Holz
Eine nachhaltige High-End-Version dieser neuen Wohntypologie bildet das Projekt Juf Nienke, das sich ebenfalls auf einer der Inseln im neuen Stadtteil IJburg befindet. Bei diesem urbanen Wohnkomplex haben die Architekten der niederländischen Büros SeARCH und RAU einzelne Module in Holzbauweise in einer Art Wabenbau mit variablen Tiefen zusammengesetzt. Diese bilden in der Außenhülle des Eingangsbereichs unterschiedliche Vor- und Rücksprünge aus. Ein tektonisches Spiel, das die Fassade spannend und lebendig macht.
Die 61 Wohnungen der Anlage erheben sich 15 Meter über einem Betonsockel. Sie sind um eine große Erschließungstreppe gruppiert und mit außenliegenden Laubengängen versehen. Diese umlaufenden Terrassen bieten einen Ausblick auf den ruhigen Innenhof und verbinden alle drei Blöcke miteinander, die C-förmig angeordnet sind. Sie dienen als gemeinschaftliche Verbindungswege und als Ort, der die nachbarschaftliche Kommunikation fördert.
Die Hälfte der Wohnungen sind für Lehrer und andere öffentliche Bedienstete aus dem Bildungswesen, dem Gesundheitswesen und der Polizei vorgesehen. Die andere Hälfte soll privat an Familien vermietet werden.
Pioniere der Holzrevolution
Trotz der drängenden Wohnungsnot hat man hier keine 08/15-Anlage in herkömmlicher Bauweise errichtet, sondern ein zukunftsweisendes Wohnprojekt geschaffen, das Vorbildwirkung hat. Das Architekturbüro SeARCH hat in Amsterdam bereits einige modulare Holzbauten umgesetzt und sich dem Bauen im Einklang mit der Natur verschrieben.
„Als niederländische Architekten sind wir uns der Landknappheit bewusst und fest davon überzeugt, dass wir diese Ressource intelligenter einsetzen müssen, um der Natur mehr Raum zum Überleben zu geben“, wie es in ihrem Mission Statement heißt. „Wir sind Pioniere der Holzrevolution und kreieren gesunde, innovative, modulare Architektur.“
Kreislauffähig in Material und Bauweise
Das Wohnbauprojekt Juf Nienke ist „ein zirkuläres, naturintegriertes und energiepositives Gebäude mit starker städtischer Präsenz“, heißt es zusammenfassend in der Projektbeschreibung.
Die Kreislauffähigkeit ergibt sich zum einen durch die Wahl der Materialien, zum anderen durch die modulare Bauweise. Das Gebäude besteht laut Architekten durchwegs aus biobasierten, erneuerbaren oder rezyklierten Materialien.
Die vorgefertigten Module sind in Holzrahmenbauweise und zum Teil in Brettsperrholz gefertigt. Sie lassen sich entweder horizontal oder vertikal miteinander zu Einheiten verbinden und bieten dadurch eine große Vielfalt an Wohntypologien.
Der Wohnbau ist zur Gänze in Holz gebaut und somit können wir mehr als 580.000 Kilogramm CO₂ speichern. Damit reagieren wir aktiv auf die Herausforderungen, die durch den Klimawandel entstehen, und tragen zu einer gesunden Lebensumgebung bei.
SeARCH und RAU, Architekturbüros
Neben kleinen Wohneinheiten für Single-Haushalte gibt es auch mehrgeschossige Apartments für Familien. Durch die variable Tiefe der Module und die konstante Breite von vier Metern lässt sich die Anlage bei Bedarf auch erweitern oder – am Ende ihrer Lebensdauer – zur Gänze rückbauen.
Grüner Lebensraum für Mensch und Tier
Die modulare Holzbauweise sorgte nicht nur dafür, dass es auf der Baustelle weniger Lärm und Müll gab, es verringerte sich dadurch auch die Bauzeit erheblich, wie die Architekten erklären. Einer der großen Vorteile gegenüber der mineralischen Bauweise. Die Eigenschaft des Holzes als CO₂-Senke wirke sich zudem positiv auf die Klimabilanz des Projektes aus. „Der Wohnbau ist zur Gänze in Holz gebaut und somit können wir hier mehr als 580.000 Kilogramm CO₂ speichern. Damit reagieren wir aktiv auf die Herausforderungen, die durch den Klimawandel entstehen, und tragen zu einer gesunden Lebensumgebung bei.“
Das Gebäude ist an das Fernwärmenetz angeschlossen und eine Photovoltaikanlage mit einer Leistung von 140 Kilowatt-Peak liefert mehr Strom, als im Betrieb verbraucht wird. Eine Parkanlage im Innenhof und eine begrünte Gemeinschaftsterrasse sollen die urbane Biodiversität stärken. Auch Fledermäuse und Vögel sollen sich hier wohlfühlen, für sie hat man zahlreiche Nischen im Außenbereich geschaffen.
Hoch über der Eingangstreppe befindet sich sogar ein eigenes Bat Hotel, in dem die heimischen Zottelfledermäuse überwintern können. Das ist nicht nur gut für die Artenvielfalt, sondern auch für die Menschen, die hier in unmittelbarer Nähe zum Wasser leben werden. Die Tiere fressen nämlich pro Abend etwa 3.000 Mücken. Einen besseren Insektenschutz gibt es eigentlich nicht.
Text: Gertraud Gerst
Fotos: Stijn Poelstra