Es grünt so grün in Kopenhagen
Ein einstiges Industriegelände der Eisenbahn wird zum grünen Stadtviertel: Der Masterplan des Büros Cobe setzt mit Jernbanebyen ein innovatives Quartier ins Zentrum von Kopenhagen. Teilweise auto-frei, mit neu genutzten Baudenkmälern und viel Neuem, das Lebensqualität verspricht.
Was viele europäische Städte plagt, macht auch Dänemarks schöner Hauptstadt zu schaffen: Wohnungsnot und steigende Immobilienpreise. Zugleich wächst der Wunsch nach Naturnähe und Nachhaltigkeit. Der Stadtentwicklungsplan „kp19“ soll ihn erfüllen und auch leistbaren Wohnraum schaffen. Zum Beispiel mit Projekten wie Jernbanebyen: Auf einem 550.000 Quadratmeter großen, ehemaligen Eisenbahn-Gelände in Kopenhagens Zentrum soll ein bunter, umwelt- und menschenfreundlicher Stadtteil entstehen.
Facettenreiches Großprojekt
Der spannende Masterplan für Jernbanebyen (das „Eisenbahnviertel“) stammt vom selbst in Kopenhagen ansässigen Büro Cobe. Er beinhaltet autofreie Bereiche, in denen traditionelle Straßen durch Grünzonen für Radfahrer und Fußgänger ersetzt werden. Zugleich soll die frühere Funktion des Geländes modern wiederbelebt werden. Denn die einstige industrielle Produktionsstätte der dänischen Eisenbahngesellschaft DSB wird auch wieder Ort der Produktentwicklung, Fertigung und des Verkaufs sein: Die denkmalgeschützten Produktionsgebäude werden in Werkstätten für kreative Unternehmen und Start-ups umgewandelt.
Jernbanebyen wird zum kontrastreich gemischten Quartier, das Gestern und Morgen einladend verbindet. Historische Industriegebäude und Bahngleise, Grünflächen, Wohnungen, Geschäfte, Lokale, Gemeinschaftseinrichtungen, Kultur und mehr: Kopenhagens neues Viertel soll den Rahmen für besseres und nachhaltigeres Stadtleben schaffen. Mit 4.500 neuen Wohnungen, Arbeitsplätzen für 8.000 Menschen, mehr als 11 Hektar Grünflächen und acht Hektar grünen Straßen. Viele Einrichtungen der DSB werden aus dem Gebiet ausziehen, um Platz fürs schöne Zukunftsprojekt zu machen.
Feines Geflecht aus Natur und Stadt
Cobes Plan verflicht grünes Gefüge mit der städtischen Struktur. Fußgänger und Radfahrer werden bevorzugt. Und alle Wohnungen und Arbeitsplätze werden Grünflächen und Bäume in unmittelbarer Nähe vorfinden. Das grüne „Netz“ von Jernbanebyen erstreckt sich über die Umgebung und verzweigt sich zu einem Delta aus begrünten urbanen Räumen und Verbindungen.
Masterplan mit fünf „Säulen“
Die Entwicklung von Jernbanebyen basiert auf fünf Säulen, die jeweils den Gesamtplan des Stadtteils unterstützen. Diese Vorgaben sollen auch sicherstellen, dass seine Hauptstruktur und grundlegenden Qualitäten erhalten bleiben: Die „grünen Lücken“, also das Netz städtischer Grünflächen, ergeben eine Gesamtstruktur und heben die Lebensqualität. Das „Gefüge“ webt die Landschaft in die Stadtentwicklung ein. Das Lärmmanagement ist als „Perlenkette“ lokaler Lösungen konzipiert, die das Gelände geschickt umrahmen.
Säule Nummer vier ist die Strategie der „alltäglichen Stadt“: Jernbanebyen ist in verschiedene kleinere Viertel unterteilt, die jeweils individuellen Charakter haben. Die spezifischen Qualitäten und Herausforderungen jeden Ortes dienen hierbei als Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung. Die fünfte Säule indes würdigt die industrielle Geschichte des Standorts: Als „Stadt der Produktion“ wird Jernbanebyen das Erbe der Vergangenheit fortschreiben. Und zwar indem historischen Bauten erhalten, umgestaltet und wiederbelebt werden.
Zehn Hektar Park als „Rückgrat“
Die grünen Zonen bilden ein verbindendes Netz aus landschaftlich gestalteten Stadträumen. Und sie bringen große Parks ins Herz von Kopenhagen. Wobei der Masterplan für Jernbanebyen die Natur in vier verschiedene Typen unterteilt. Typ eins ist die „kulturelle“ Natur mit drei großen Parks. Sie verbindet das Viertel von Norden nach Süden mit den umliegenden grünen Stadtstrukturen. Typ zwei steht für die „Eisenbahn-Natur“, also die Bereiche entlang der Bahnlinie. Diese ergeben eine zusammenhängende Ost-West-Verbindung.
Zonen, die in Verbindung mit den ehemaligen Industriegebäuden stehen, gelten als „lokale Natur“: Diese Stadträume werden gezielt inszeniert und als Ankerpunkte der Entwicklung genutzt. So, dass jedes einzelne Quartier seinen eigenen, unverwechselbaren Treffpunkt bekommt. Den vierten Typ bezeichnen die Planer als „Infra-Natur“. Dies bezieht sich darauf, dass im mancherorts gänzlich autofreien Jernbanebyen alle Bewohner hautnah an der Natur leben. Alle Straßen werden laut Plan als attraktive Gemeinschaftsflächen gestaltet.
Weniger Straßen, mehr Grün
Mit den autofreien Straßen will das Architekten-Team von Cobe Raum für Natur gewinnen. Die traditionelle Straßenfläche soll so auf bis zu 50 Prozent verringert werden. Straßen werden zu grünen Korridoren, die für frische Luft und üppige urbane Vegetation sorgen. Dies garantiert Mehrwert für die Bewohner, verbessert das Stadtklima und fördert die Artenvielfalt.
Fahrbahnen werden auf fünf Meter Breite reduziert. Für Autos wird es Abstellplätze in Parkhäusern an der Peripherie des Geländes geben. Die primären Grünverbindungen sind auch als Hauptverbindungen für Radfahrer und Fußgänger gedacht. Fahrerlose Busse werden Jernbanebyen ans öffentliche Verkehrssystem Kopenhagens anbinden. Und eine bestehende Zollhalle wird zum überdachten Bereich, der als zusätzlicher Hotspot zum Verweilen lädt: Mit einer Orangerie und einem lokal geführten Café.
Durchdachte Lärmschutz-Strategie
Weil Jernbanebyen zwischen stark befahrenen Hauptverkehrsadern und Bahnlinien liegt, spielt Lärmschutz in Cobes Masterplan eine wichtige Rolle. Das Mittel dazu ist die oben erwähnte „Perlenkette“. Zu ihren Elementen zählen etwa die Parkhäuser an den Außenrändern des neuen Viertels. Ihre grünen Wände wirken wie Puffer und verschaffen zugleich Vögeln und Insekten ein Zuhause.
Ruhig und naturnah wohnen
Neue Wohnbauten werden mit dicht begrünten Gemeinschaftsbalkonen ausgestattet, die jeweils vier bis sechs Wohnungen miteinander verbinden – und so ebenfalls als Lärmschutz fungieren. Auch vertikale Parks, viele begrünte Fassaden und strategisch gelegene Industrie- und Gewerbegebäude sollen als Teilstücke des akustischen Schutzwalls dazu beitragen, dass es in Jernbanebyen nie unangenehm laut wird.
Jernbanebyens verschiedene, durchs Grün-Konzept definierte Teile ergeben eine Vielzahl von Möglichkeiten, die unterschiedliche Zielgruppen locken. Das „Bahnhofsviertel“ etwa bietet, wie es in der Projektbeschreibung heißt, Platz fürs „Selbstgemachte“: Es wird kleine Grundstücke für kleine und mittlere Bauherren und fürs Zusammenleben bereithalten. Das „zentrale Werkstattviertel“ hingegen ist das Herzstück des Entwicklungsvorhabens. Seine Einzigartigkeit beruht auf der Geschichte des Ortes: Es wird nach den bestehenden Werkstattgebäuden gegliedert. Und sein Zentrum wartet mit versetzten Straßen auf, in denen man sich leicht verirren, dies allerdings genießen kann.
Variantenreiches Stadtquartier
Kommt man von Westen her nach Jernbanebyen, landet man zu allererst im „Produktionsviertel“. Dort findet sich eines der erhaltenswertesten bestehenden Werkstattgebäude, das nach und nach in neue Produktionsanlagen umgewandelt werden soll. Und zwar umgeben von kreativen Unternehmen, unterschiedlichen Wohnformen und Institutionen.
Unter „Südwest-Passage“ verstehen die Planer einen neuen, grünen Radweg, der Jernbanebyen mit der umliegenden Stadt verbinden wird. Diese neue Route durch Kopenhagen wird mit aktiven städtischen Räumen, Outdoor-Fitnessbereichen und aktiven Trainingsangeboten auf den Dächern der Parkhäuser vernetzt. Zentral im neuen Stadtteil liegt indes der „Keil“: Eine gemischt genutzte Zone, die sich zu zwei inneren grünen und einladenden Stadträumen hin öffnet.
Jernbanebyen setzt Zukunft auf Schiene
Wichtiger Teil des Großprojekts Jernbanebyen ist auch die „Gleis-Nachbarschaft“: Dieser Bereich wird von geschwungenen, grünen Straßen mit Raum für Wohnen, Spiel und Bewegung geprägt. In seiner Mitte werden bestehende Gebäude zum Rahmen für den neuen Stadtplatz, unter dessen Überdachung ganzjährig Events für die lokale Gemeinschaft und ganz Kopenhagen stattfinden können.
Das Konzept der Cobe Architekten zeigt einmal mehr, wie schön und sinnvoll sich Revitalisierung historischer Substanz und moderne Stadtentwicklung kombinieren lassen. Auch große Vorhaben wie jenes auf dem Areal der verwaisten Rotterdamer Codrico-Fabrik oder die Neugestaltung der Kaiserlichen Werft in Danzig liefern den Beweis dafür.
Spannung vor dem Spatenstich
In Kopenhagen laufen nun die Arbeiten zur Vorbereitung des nachhaltigen, zukunftsfitten Stadtteils, der im Auftrag von DSB Ejendomsudvikling und Freja Ejendomme errichtet wird. Auf einem der letzten unbebauten Industriegelände im Zentrum der dänischen Metropole.
Als Termin für den ersten Spatenstich wird vorerst nur „2023 / 2024“ genannt – mit dem Hinweis „voraussichtlich“. Doch wenn Jernbanebyen dann einmal Bewohner willkommen heißen kann, wird das innovative Viertel seinen Nutzern bestimmt Freude machen. Wie auch der Stadt, die – ebenso wie viele andere rund um den Globus – dringend mehr lebenswerten Wohnraum braucht.
Text: Elisabeth Schneyder
Bilder: Cobe