Heilsame Architektur
Das Isuarsivik Regional Recovery Centre im kanadischen Kuujjuaq ist die Anlaufstelle für Indigene, die mit Traumata und Drogensucht kämpfen. EVOQ Architecture hat die Kapazitäten des Zentrums durch einen Neubau verdreifacht.
Die Landschaft ist wild und rau im Nordosten Kanadas. Eine Straßenverbindung zwischen dem etwa 510.000 Quadratkilometer großen Inuit-Gebiet auf der Labrador-Halbinsel und dem südlichen Teil der kanadischen Provinz Québec gibt es nicht. Die Versorgung erfolgt durch eine ganzjährige Flugverbindung, im Sommer und Herbst auch über Transportschiffe. Dennoch haben die Inuit die Region „Nunavik“ getauft, was so viel bedeutet wie „Land, in dem es sich leben lässt“. Und lange lebten die Nunavimmiut hier oben auch gut – nach ihren uralten Traditionen und im Einklang mit der Natur.
Aus der Balance geraten
Das Vordringen der „modernen“ Zivilisation hat die sensible Balance jedoch gestört. Obwohl die Inuit eigentlich mit besonderen Rechten ausgestattet sind, leiden sie vielfach unter soziokultureller Unterdrückung. Nicht wenige der rund 10.000 Nunavimmiut kämpfen daher mit Traumata. Die Suizidrate ist laut Statistics Canada achtmal höher als im übrigen Land, Drogensucht und Alkoholmissbrauch sind weit verbreitet. Die einzige Anlaufstelle für die Einwohnerinnen und Einwohner der 14 regionalen Gemeinden: das Isuarsivik Regional Recovery Centre in Kuujjuaq.
Von Inuit für Inuit
Seit 1994 bietet das von Inuit für Inuit gegründete Zentrum ein stationäres Programm zur Suchtentwöhnung an und spezielle, kulturell angemessene Therapien, die sich an den Traditionen und Praktiken der Nunavimmiut orientieren. Doch mit nur neun Betten platzte es schon länger aus allen Nähten. Durch einen Neubau konnten die Kapazitäten nun verdreifacht und die Dienstleistungen erweitert werden. „Das neue Isuarsivik Regional Recovery Centre bewegt sich weg vom 12-Schritte-Modell der Anonymen Alkoholiker und mehr in Richtung Prävention“, sagt Renaud Paquette, der Sprecher des Zentrums.
Auch werdenden Müttern wird künftig in Kuujjuaq Unterstützung angeboten. Der Bedarf ist groß. Denn die Quote der Schwangerschaften im Jugendalter liegt deutlich über dem nationalen Durchschnitt und die Säuglingssterblichkeit ist noch immer etwa dreimal höher. Und 75 Prozent der Frauen rauchen auch während der Schwangerschaft.
Therapie ist Familiensache
Weiters hat das Zentrum ein neues Programm für die Angehörigen der Traumatisierten und Suchtkranken etabliert. „Denn die Auswirkungen von Traumata sind weitreichend und kompliziert und betreffen mehrere Generationen, insbesondere aufgrund von Drogenkonsum“, betont Etua Snowball, Geschäftsführer des Isuarsivik Regional Recovery Centre.
Neben 12 Wohneinheiten für das Personal und 32 Betten für Behandlungssuchende verfügt das neue Gebäude daher auch über Unterkünfte für deren Kinder und Partner:innen. Und neben verschiedenen Wohneinheiten für Familien wurden zudem eine Kindertagesstätte und ein Bereich für die Schulbetreuung geschaffen. „So ermöglichen wir es den Familien zusammenzubleiben, wenn ein Angehöriger im Zentrum wohnt, und verbessern die Lebensqualität der Kinder“, erklärt Snowball.
Sensibel für die First Nations
Entworfen wurde der Neubau von EVOQ Architecture. Das preisgekrönte heimische Architekturbüro ist in Kanada nicht nur für seine innovativen Entwürfe im Bereich der Erweiterung historischer Bauten bekannt – der Glasflügelanbau für die Bibliothek Maisonneuve in Montreal stammt zum Beispiel aus ihrer Feder. Das Team setzt auch immer wieder Projekte für die Gemeinschaften der Inuit und First Nations um. Dementsprechend wusste man auch bei der Planung des Isuarsivik Regional Recovery Centre mit dem richtigen Fingerspitzengfühl vorzugehen. Das Design des Zentrums nimmt Rücksicht und Bezug auf die besondere Zielgruppe, ihre Bedürfnisse und die regionalen Gesundheitsthemen. „Die Vision, umfassende und kulturell sensible Heilungsprogramme für Nunavimmiut anzubieten, ist auch architektonisch umgesetzt“, freut sich Etua Snowball.
Vom Iglu inspiriert
Gelungen ist dies unter anderem dadurch, dass die beiden Gebäudeflügel des Isuarsivik Regional Recovery Centre um einen sogenannten Qaggiq angeordnet sind. Inspiriert vom Iglu der Inuit, einem kreisförmigen Ort der Begegnung und des Austauschs, ist der Qaggiq das eigentliche Herzstück des Zentrums. Auch die Rezeption ist dort angesiedelt. Auf derselben Ebene und im Stockwerk darüber befinden sich die öffentlichen Räume, die Therapiezimmer und die Büros. Zwei kleinere, intimere Qagguit sind als Begegnungszonen an den beiden Enden der Unterkunftsflügel untergebracht, in denen die Wohnbereiche für die Klienten und deren „Gäste“ liegen.
Integration von und mit Kunst
Neben den Qagguit sorgen mehrere ins Haus integrierte Werke lokaler Kunstschaffender dafür, die Kultur der Gemeinde zum Ausdruck zu bringen. Schon am Haupteingang begrüßt der Qullialuk die Besucher. Diese Skulptur, die der traditionellen Öllampe der Inuit nachempfunden ist, ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit der Künstler Mattiusi Iyaituk, Benjamin Isaac, George Kaukai, Charleen Watt, Sarah May und Pascale Archambault.
An der Hauptfassade hat der Künstler Alec Gordon einen Uropik-Zweig neu interpretiert. Uropik ist das Inuit-Wort für die arktische Weide, eine Heilpflanze, die auch das Symbol des Zentrums ist. Das Werk ist am besten in den langen Winternächten zu sehen. Denn die Kätzchen oder Knospen des Uropik sind von hinten beleuchtet. Und im Gebäude selbst findet man an verschiedenen Stellen von Sarah May geschaffene Tunniit. Die Muster, die aus der traditionellen Formensprache der Gesichtstätowierungen der Inuit-Frauen entlehnt sind, zieren zum Beispiel Glaswände und Schränke.
Gut Ding will Weide haben
Das neue Genesungszentrum steht auf einer felsigen Halbinsel in Kuujjuaq. Durch seine Architektur integriert es sich in sein subpolares Umfeld. Die warme Farbe des holzverkleideten Qagguit erinnert wie Alec Gordons Kunstwerk an das sanfte Leuchten der arktischen Weidenkätzchen. Das Gebäude selbst soll in seiner Form, so die Planer, an einen Zweig der Weide erinnern. Die gedämpfte Außenverkleidung hebt die Enden der Flügel hervor. Für eine warme Wohlfühlatmosphäre sorgt zusätzlich die Farbpalette des Innendesign: Die Herbsttöne der Landschaft Nunaviks durchdringen die Räume und tauchen sie in sattes Orange, Grün und Ocker.
Die Natur als Therapeut
Die Planer haben also nicht nur die Architektur in den Dienst der Heilung gestellt, auch der Kontakt mit der Natur spielt eine wichtige Rolle im Genesungsprozess. „Wir wollen, dass sich die Nunavimmiut hier zu Hause fühlen“, sagt Etua Snowball. Von so gut wie jedem Zimmer blickt man auf den Koksoak-Fluss. Die gebaute Umgebung „arbeitet“ mit der Landschaft zusammen, „um ein kulturelles Umfeld zu schaffen, das die von Isuarsivik entwickelte Behandlung unterstützt“, erklären die EVOQ-Architekten.
Information ist alles
Das beste Gesundheitsprogramm und die sensibelste Healing Architecture sind jedoch machtlos, wenn das Angebot nicht genutzt wird. „Wir wollen sicherstellen, dass jeder darüber Bescheid weiß. Es wird daher Präsentationen und Tage der offenen Tür geben, um die neuen Dienstleistungen zu erläutern und um zu zeigen, was durch fortgesetzte Betreuung erreicht werden kann“, betont der Geschäftsführer des Isuarsivik Regional Recovery Centre. „Wenn die Gemeindemitglieder bereit sind, Hilfe in Anspruch zu nehmen, sind wir für sie da, und sie können uns auf jede erdenkliche Weise kontaktieren.“
Gute Zusammenarbeit
An der Finanzierung wird das Projekt jedenfalls nicht scheitern. Die Regierung von Quebec hat – unter Beteiligung des Ministeriums für Gesundheit und Soziales – bereits angekündigt, das Pflege und Dienstleistungen in Isuarsivik im ersten Jahr mit 350.000 US-Dollar und in den folgenden drei Jahren mit drei Millionen US-Dollar pro Jahr zu unterstützen. Den Bau des neuen Isuarsivik-Zentrums, das rund 40 Millionen Euro kostete, finanzierte die Gemeinde mit Hilfe regionaler Organisationen und der Regierung. Allein der kanadische Staat steuerte 27 Millionen bei.
Symbol der Versöhnung
Die Symbolik dahinter lässt sich hingegen kaum beziffern, sie ist vielmehr unbezahlbar. So betonte Patty Hajdu, Ministerin für indigene Dienstleistungen bei der Einweihung des Gebäudes: „Die Eröffnung des Zentrums wurde dank der Führungsrolle der Nunavimmiut möglich. Unsere Aufgabe in der Regierung ist, diese Führung zu unterstützen. Auf diese Weise können wir uns auf dem Weg zur Versöhnung bewegen.“
Damit wird das Zentrum zu einem doppelten Pfeiler des Heilungsprozesses in Nunavik.
Text: Daniela Schuster
Bilder: Samuel Lagacé (Tumiit Media); EVOQ Architecture