Ein menschliches Maß
Seit dem Bau eines wegweisenden Holz-Hochhauses in Schwedens hohem Norden sind sie in aller Munde. White Arkitekter schrauben die grüne Messlatte gerade ordentlich nach oben. Das Ziel: Klimaneutralität bis 2030. Über die Strategie dahinter haben wir mit Vize-CEO Carl Bäckstrand in Stockholm gesprochen.
An einem neuralgischen Punkt in Stockholms Innenstadt – am Übergang zwischen den Inseln Södermalm und der Altstadt Gamla Stan – befindet sich die zurzeit größte Baustelle der Stadt. Der hohe Bauzaun auf beiden Seiten verstellt den Blick auf das Wasser, also auf den Teil, wo die Stadt am schönsten ist. Doch die Stockholmer wissen, dass sich das Warten auf die Aussicht lohnen wird. Abgesehen von einer besseren Verkehrserschließung und einer notwendigen Anpassung an die Klimaveränderung wird ihnen das Großprojekt Slussen nämlich auch neuen Erholungsraum erschließen. Die rationale Verbindung zwischen den beiden Inseln wird damit um eine menschliche Komponente bereichert.
Maßgeblich an dem Projekt beteiligt ist das schwedische Architekturbüro White Arkitekter, eines der ältesten des Landes, das kürzlich sein 70-jähriges Bestehen feierte. Internationale Bekanntheit erlangte das Büro durch das mehrfach preisgekrönte Holzhochhaus Sara Kulturhus. Es bescherte der nordschwedischen Stadt Skellefteå nicht nur ein neues Kulturzentrum und ein Hotel, sondern auch einen neuen Wirtschaftsmotor und ein strahlkräftiges Wahrzeichen für die grüne Industrie, die sich hier angesiedelt hat.
Sein Headquarter hat das Unternehmen mit knapp 800 Mitarbeitern in Stockholm, in einem Bürogebäude, das trotz seines 20-jährigen Bestehens noch immer zu den innovativsten und nachhaltigsten seiner Art zählt. Dort hat uns Vize-CEO Carl Bäckstrand verraten, warum der unübersetzbare schwedische Begriff „lagom“ aus ihrer Architektur nicht wegzudenken ist.
Ein Übersetzungsversuch.
Wenn Sie die ersten Projekte von White Arkitekter mit den jüngsten vergleichen, was ist ihr gemeinsamer Nenner?
Sidney White, ein in Schweden geborener Architekt mit britischen Wurzeln, hatte 1951 eine Ausschreibung in Örebro für einen kommunalen Wohnbau gewonnen. Das markierte den Beginn von White Arkitekter. Baronbackarna, wie die Siedlung hieß, war sehr experimentell und innovativ und gilt heute als Meilenstein im schwedischen Wohnbau. Sie bot den Familien ausgeklügelte Wohnkonzepte, autofreie, grüne Innenhöfe und eine gute Infrastruktur. Das war die Zeit nach dem Krieg, in dem sich der Sozialstaat entwickelte und Wohnbau, Gesundheits- und Bildungseinrichtungen die zentralen Themen waren. Obwohl wir heute um einiges breiter aufgestellt sind, machen diese Bereiche noch immer einen wichtigen Teil unseres Kerngeschäfts aus. Vom architektonischen Standpunkt aus betrachtet haben die Projekte damals wie heute einen sehr menschenzentrierten Ansatz. Auch der enge Bezug der Architektur zur Natur ist gleichgeblieben, nur haben wir heute eigene Landschaftsarchitekten in der Firma.
Und worin unterscheiden sich die Projekte heute von damals?
Ich würde sagen, dass die Dinge wesentlich komplexer geworden sind, sowohl im Konzeptionellen, als auch in der Bauweise. Auch wenn wir nach Einfachheit streben, so muss im Designprozess heute eine Vielzahl von Materialien berücksichtigt werden. Auch die Optimierung von Tageslicht in einem Gebäude hängt von sehr vielen Faktoren ab. Ein kritischer Punkt, der oft für hitzige Diskussionen mit den Entwicklern sorgt, ist die Bebauungsdichte. Damals in den 1950er-Jahren lagen die Projekte außerhalb der Stadtzentren und der Druck auf die Flächen war noch nicht so groß. Heute müssen wir aufpassen, dass die Qualität der Außenbereiche nicht diesem Druck zum Opfer fällt. Das Verhältnis zwischen bebautem und unbebautem Raum, zwischen Mensch und Natur, muss „lagom“ sein, ein schwedischer Begriff, für den es keine direkte Übersetzung gibt. Am ehesten trifft es: ausgewogen.
Vielleicht: auf ein menschliches Maß heruntergebrochen?
Ja, das trifft es ganz gut. Der Mensch steht im Zentrum all unserer Überlegungen. Allerdings hat die Klimaforschung der letzten Jahre gezeigt, wie wichtig es ist, dabei die sogenannten planetaren Grenzen zu respektieren. Dieses Konzept stammt von Johan Rockström, einem schwedischen Wissenschaftler, der jetzt am Potsdam Institut für Klimafolgenforschung arbeitet. Denn wenn wir diese Grenzen überschreiten, dann schwindet auch die Lebensgrundlage des Menschen. Wir als Architekten haben heute die Verantwortung, unsere Perspektive zu erweitern und diese Grenzen in unsere Überlegungen miteinzubeziehen.
Die ökologische Nachhaltigkeit war in den 1970er-Jahren vermutlich noch kein Thema.
Ansätze dazu gab es schon damals, aber heute haben die Überlegungen mit konkreten Messungen und Berechnungen eine ungeheure Komplexität erreicht. Aufgrund der aktuellen Dringlichkeit arbeiten wir heute sehr fokussiert an der Nachhaltigkeit von Gebäuden. Mit dem White Research Lab betreiben wir eine eigene Forschungsabteilung, die viele Disziplinen abdeckt. Neben Umwelt- und Energieexperten arbeiten dort zum Beispiel auch Anthropologen an der sozialen Verträglichkeit von Bauprojekten. Für tiefergehende Forschung bilden wir Kooperationen mit europäischen Universitäten und Organisationen wie etwa dem Fraunhofer Institut.
Der Mensch steht im Zentrum all unserer Überlegungen. Allerdings hat die Klimaforschung der letzten Jahre gezeigt, wie wichtig es ist, dabei die sogenannten planetaren Grenzen zu respektieren.
Carl Bäckstrand, Vize-CEO White Arkitekter
White hat auch außerhalb von Schweden den Zuschlag für Health-Care-Projekte bekommen, die zu einem großen Teil in Holzbauweise realisiert werden. Liegt der Holzbau im Gesundheitsbereich nicht quasi auf der Hand?
Obwohl es schon seit längerer Zeit Studien gibt, die die positive gesundheitliche Wirkung von Holz bestätigen, wurde es bislang noch nicht oft als Baumaterial für Krankenhäuser eingesetzt. Diese Entwicklung fängt jetzt gerade erst an. In Evaluierungsstudien, die wir zusammen mit Universitäten durchgeführt haben, hat sich gezeigt, dass die Aufenthaltsdauer in psychiatrischen Kliniken mit vielen Holzoberflächen in den Räumen niedriger ist als in einer herkömmlichen Umgebung. Abgesehen von dem Wohlfühlfaktor, den das Holz mit sich bringt, ist eine schnellere Genesung natürlich auch ein Kostenfaktor für das Gesundheitssystem.
Viele dieser Holzbauprojekte sind sehr groß. Wo liegen ihrer Meinung nach die Stärken, wo die Grenzen von Holz als Baumaterial?
Holz zum Bau von Gebäuden einzusetzen, ist eine sehr gute Sache, da der im Holz gebundene Kohlenstoff für lange Zeit dort bleibt – davon gehen wir zumindest aus. Das Holz wirkt in dem Fall als Kohlenstoffsenke, während bei anderen Holzprodukten wie Papier oder Biotreibstoff das CO₂ wesentlich schneller wieder freigesetzt wird. Wenn die Forstwirtschaft künftig durch kleinflächigen und selektiven Einschlag noch nachhaltiger wird, dann kann der Holzbau unsere Industrie und die gebaute Umwelt nachhaltig positiv verändern. Wir dürfen aber nicht sagen, dass der Holzbau die einzige Lösung ist, um das zu erreichen. Das Holz sollte dort eingesetzt werden, wo es ideale Bedingungen vorfindet.
Ein internationales Vorzeigeprojekt im modernen Holzbau steht im nordschwedischen Skellefteå. Was macht es so außergewöhnlich?
Auf den ersten Blick natürlich die Tatsache, dass es 80 Meter hoch und aus Holz ist. Aber hinter dem Projekt steckt weit mehr als das. Die nordschwedische Stadt Skellefteå befindet sich in einer Transformation, unter anderem seit sich der Batteriehersteller Northvolt dort angesiedelt hat. Mit dem großen Werk für Lithium-Ionen-Batterien für Elektroautos und zur Energiespeicherung wird die einstige Bergbaustadt zu einem Zentrum der grünen Wirtschaft. Jetzt war die Frage: Wie bekommt man Ingenieure aus Deutschland und Kalifornien dazu, in eine Gegend zu ziehen, die sehr kalt und dunkel ist? Das führte zu der Einsicht, dass es ein Kulturzentrum braucht, das den Menschen etwas bieten kann. Das integrierte Hotel sollte das Projekt finanziell tragen.
Was sprach für den Holzbau?
Skellefteå liegt in Schwedens Holzgürtel und hat eine solide, aber etwas angestaubte Holzindustrie. Unser Vorschlag, das Kulturzentrum zum Pilotprojekt und Showcase des zeitgenössischen Holzbaus zu machen, passte gut in das grüne Konzept der Stadt. Außerdem würde der Großauftrag die regionale Holzwirtschaft stärken. So bekamen wir den Zuschlag.
Von wem war die Idee, das Hochhaus ohne Betonkern zu bauen?
Die grundsätzliche Idee, das Gebäude aus Holz zu bauen, kam von uns. Durch die enge Zusammenarbeit mit dem Entwickler und dem Holzbau-Spezialisten kam es zu einer Reihe von Innovationen. Zum einen wurde eine neue Hybridkonstruktion entwickelt, bei der Stahlelemente die Last der Leimbinder abtragen und so die weit gespannte Halle ermöglichen. Dass sogar die Aufzugschächte aus Holz gebaut werden, hätten wir selbst nicht gewagt, wenn der norwegische Entwickler Hent das nicht vorangetrieben hätte. Er wollte den Holzbau konsequent überall durchsetzen und sagte: ‚Lasst uns das versuchen.‘
Für das Sara Kulturhus wurde eine neue Hybridkonstruktion entwickelt, bei der Stahlelemente die Last der Leimbinder abtragen und so die weit gespannte Halle ermöglichen.
Carl Bäckstrand, Vize-CEO White Arkitekter
Das Interesse an dem Projekt war enorm, Auszeichnungen gab es schon im Vorfeld. Was hat dieses Gebäude letztlich so erfolgreich gemacht?
Die Tatsache, dass Sara Kulturhus mehr ist als nur ein Gebäude. Es ist Teil der Vision einer Stadt, Teil eines neuen Wirtschaftsgefüges. Das gilt im Grunde für alle Kulturbauten dieser Art. Hätte man stattdessen einen Wohnturm aus Holz gebaut, hätte er nicht dieselbe Wirkung gehabt. Es wären keine Besucher gekommen, nur um sich die Architektur anzusehen. Alleine, wenn man den großen Veranstaltungssaal betritt, das Holz riecht und sich bewusst wird, dass hier wirklich alles aus Holz gebaut ist, dann ist das schon ein augenöffnendes Erlebnis.
Entwickelt sich dieser Holzbau zu einer Art Touristenattraktion?
Das Bauwerk hat auf jeden Fall den Tourismus in der Region gestärkt. Das Wood Hotel und der gesamte Ort wurden unter anderem vom „Time Magazine“ zu den besten Reisedestinationen 2022 ernannt. Außerdem ist die nachhaltige Architektur ein Aushängeschild für die neue, grüne Industrie und besitzt als solches eine große Strahlkraft. Für Geschäftspartner aus aller Welt, die im Hotel untergebracht sind, ist die Besichtigung natürlich ein Fixpunkt auf ihrer Agenda.
Wohin bewegt sich die Holz-Architektur? Was werden wir in den nächsten 20 Jahren zu sehen bekommen?
Ich wünschte, ich könnte die Zukunft vorhersagen. Was ich aber schon erwarte, ist eine stärkere Industrialisierung im Holzbau. Die modulare Bauweise wird zunehmen, was aber nicht notwendigerweise zu einer Uniformität in der Architektur führen wird. Mithilfe der Digitalisierung wird es künftig möglich sein, ein modulares System so zu individualisieren, dass sich eine dynamische, authentische Ästhetik schaffen lässt. Dadurch wird es auch möglich sein, sich dem jeweiligen örtlichen Kontext besser anzupassen. Denn Kontext ist alles. Auch wenn es sehr kosteneffizient wäre, so kann man nicht einfach hergehen und denselben Entwurf an jedem beliebigen Ort umsetzen. Die Digitalisierung wird es uns ermöglichen, modulare Baukastensysteme noch adaptierbarer zu machen.
Welche Herausforderung kommt durch das zirkuläre Bauen auf die Architektur zu?
Wir dürfen uns nicht auf den Neubau alleine verlassen. In Zukunft wird es sehr stark darum gehen, den Bestand zu erhalten und zu transformieren. Es gibt sehr viele Betonstrukturen. Diese einfach zu zerstören wäre eine Riesenverschwendung. Die Herausforderung besteht künftig darin, diese Strukturen nachhaltiger zu machen und mit biobasierten Materialien wie Holz im Sinne der Nachverdichtung aufzustocken.
Kann die heutige Klimakrise auch eine Chance für die Architektur sein, unsere Welt besser zu machen?
Ja, definitiv. Die Architektur kann eine wichtige Rolle in dieser Neuordnung spielen, die uns bevorsteht. Es geht nicht allein darum, neue Technologien zu entwickeln oder von Verbrennungsmotoren auf E-Autos umzusteigen. Es geht um viel mehr als das. Ursula von der Leyens Initiative des Neuen Europäischen Bauhauses fasst es gut zusammen: Für unsere Lebensräume braucht es Lösungen, die ein Zusammenspiel von Ästhetik, Inklusion und Nachhaltigkeit sind. Damit wird der Wandel, den es in unserem System braucht, zu einem menschlichen Projekt, mit dem sich jeder identifizieren kann. Die Architektur wird also bei der Umsetzung des europäischen Grünen Deals eine zentrale Rolle spielen.
Sie haben sich als Unternehmen das Ziel gesetzt, bis 2030 komplett CO2-neutral zu sein. Das klingt nach einer ziemlichen Herausforderung.
Bei den Zielen, die wir uns setzen, geht es immer darum, uns einem gewissen Druck auszusetzen und unseren Fokus zu schärfen. Seit wir uns das Ziel der Klimaneutralität bis 2030 gesetzt haben, hat sich unsere Herangehensweise an Projekte tatsächlich verändert. Wir haben damit begonnen, bei jedem Projekt die Messlatte der Nachhaltigkeit etwas höher zu legen. Wir wollen das Ziel nicht erreichen, indem wir nur mehr grüne Leuchtturmprojekte umsetzen, das hätte gesamtgesellschaftlich nicht so eine große Wirkung.
Für unsere Lebensräume braucht es Lösungen, die ein Zusammenspiel von Ästhetik, Inklusion und Nachhaltigkeit sind.
Carl Bäckstrand, Vize-CEO White Arkitekter
Ziehen da alle Auftraggeber mit?
Das ist unterschiedlich. Es gibt Kunden, die haben einen noch höheren Anspruch als wir. Und dann gibt es auch die, die sich gar nicht davon überzeugen lassen, weil sie in sehr kurzen Zyklen agieren und nur bis zu dem Punkt denken, an dem sie damit Geld machen können. Solche Projekte lehnen wir ab, die können wir einfach nicht unterstützen. Durch die EU-Taxonomie-Verordnung sehen wir allerdings, wie Banken zunehmend Druck auf Entwickler ausüben. Es braucht diese finanziellen Instrumente, um hier einen grundlegenden Wandel zu erzielen.
Warum der enge zeitliche Rahmen von 2030?
Der zeitliche Rahmen hat folgenden Hintergrund: Wir arbeiten in einem Bereich mit sehr langen Projektzeiten. Wenn wir das Ziel „Net Zero“ bis 2045 erreichen wollen, dann müssen die Projekte ab 2030 oder 2035 klimaneutral sein, da es Zeit braucht, das auch über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg umzusetzen. Hinter unserem Ziel steht ein umfassender Plan und eine konkrete Roadmap. Die großen Vorzeigeprojekte brauchen wir, um mehr Bewusstsein zu schaffen, den Hebel setzen wir bei der Masse an.
Interview: Gertraud Gerst
Fotos: Patrick Degerman, Åke E:son Lindman, Anders Bobert
Visualisierung: White Arkitekter