In Harmonie mit dem Regenwald
Dem Wohnhaus Casa Açucena in Brasilien diente die im Regenwald blühende Riesen-Lilie als Vorbild. Lily House wirkt wie in die tropische Vegetation hineingeworfen. Und doch ging Tetro Arquitetura sensibel mit dem Habitat um.
Brasilien gehört zu den reichsten Ländern der Welt, zumindest was die Flora betrifft – egal ob im atlantischen Regenwald nahe der Küste, in der Trockensavanne des Cerrado, im Feuchtgebiet des Pantanal, im Amazonas-Regenwald, in der Caatinga, der Dornstrauchsavanne im Nordosten oder in der im Süden gelegenen Pampa.
Somit wundert es nicht, dass sich in Brasilien besonders schöne Liliengewächse finden lassen. Die Wasserlilie beziehungsweise Seerose Victoria Amazonica ist sogar die größte aller Lilien: In der Natur erreichen ihre Blätter einen Durchmesser von bis zu unglaublichen drei Metern. Die Blüten werden gut 40 Zentimeter groß, blühen zwei Tage lang; komplett weiß, mit einem Geruch nach Ananas.
Casa Açucena: Fassade erstrahlt wie das Weiß der Lilie
Casa Açucena, ein Wohnhaus im Bundesstaat Minas Gerais im Südosten Brasiliens, hat zwar nicht die sanft-runden Formen der Blüten einer Liliaceae, wie der lateinische Name der Liliengewächse lautet. Wohl aber präsentiert sich das Haus mit seiner gleißend weißen Fassade wie eine der weiße Lilien inmitten der üppigen tropischen Landschaft. Und der Name Açucena bedeutet ja nichts anderes als Lilie auf Brasilianisch. Kurz: Hier hat man sich direkt an der schönen Pflanze orientiert.
Das vom lokalen Architekturbüro Tetro Arquitetura entworfene Haus Casa Açucena befindet sich in der Nähe von Nova Lima, einer Stadt mit rund 90.000 Einwohnern, südlich des bekannteren Belo Horizonte. Das bemerkenswerte architektonische Werk ist in den zauberhaften atlantischen Regenwald eingebettet.
Schwierige Topographie mit steilem Abhang
Die Planung und Realisierung von Casa Açucena war kein leichtes Unterfangen. Die Herausforderung lag darin, in der für die Region typischen steilen Topografie das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Und das mit dem Ansinnen, die natürliche Umgebung so wenig wie möglich anzutasten. Gleichzeitig sollte den Bewohnern die Möglichkeit gegeben werden, aus nächster Nähe den Himmel durch die teils 15 Meter hohen Baumkronen betrachten zu können.
Das Blätterdach und die gewünschte Naturnähe stellten demnach die zentrale Inspirationsquelle für die Architekten dar. Im Endeffekt zeugt das Projekt von deren großer Sensibilität für das Gelände und der klaren Absicht, die Natur zu schonen und einzubinden. Davon ausgehend wurden alle nachfolgenden Gestaltungsentscheidungen getroffen.
Kein einziger Baum musste weichen
Es wurde kein einziger Baum gefällt, alles steht im Dialog mit der Natur. Mit den hoch aufragenden Bäumen, dem grünem Laub und den vielen Sträuchern bietet das Grundstück einen natürlichen Lebensraum für eine Vielzahl von Vögeln und Wildtieren.
Das Grundkonzept unseres Entwurfs bestand darin, dass sich das Gebäude der natürlichen Topografie anpassen sollte und nicht umgekehrt. Daher steht das Wohnhaus Casa Açucena auf Stelzen – so können Flora und Fauna unter ihm leben und gedeihen.
Tetro Arquitetura
Die Baukörper „en suite“ sind angehoben, sie stehen auf Stelzen. So können Flora und Fauna auch unter dem Haus weiterhin blühen und gedeihen und leben. Der Grundriss „schlängelt“ sich entlang der natürlichen Route der zwischen den Bäumen entstehenden Freiräume. So ergeben sich zahlreiche Vorsprünge oder Einbuchtungen.
Hellrote Wendeltreppe als farbenfroher Akzent
Nähert man sich dem Haus, so zieht naturgemäß die auffällige weiße Fassade sofort die Blicke auf sich. Sie kontrastiert mit den saftigen Grüntönen der üppigen, tropischen Vegetation ringsum. Die schwarzen Säulen, auf denen die Baukörper ruhen, schaffen eine harmonische visuelle Verbindung mit den umliegenden Bäumen.
Auch das Interior Design ist von hellen Farben geprägt – das Weiß wiederholt sich in den Steinböden und Fliesen. Die mit hellem Holz vertäfelten Wände sowie hellbraunen, raumhohen Bücherregale und Schränke verbreiten Wärme. Eine hellrote Wendeltreppe, die die Geschoße verbindet, setzt einen farbenfrohen Akzent.
„Eine Art ätherische Qualität“
Das mehrstöckige Haus strahlt – trotz seiner immerhin 500 Quadratmetern bebauter Fläche – eine ätherische Qualität aus, meinen die verantwortlichen Architekten Carlos Maia, Débora Mendes und Igor Macedo. Dies liegt auch an den großen Fenstern. Sie lassen nicht nur viel natürliches Licht in die Wohnräume. Oftmals sind die raumhohen Glasflächen auch direkt gegenüber angeordnet, sodass man durch das Haus hindurchschauen kann.
Das begrünte Dach ist zudem mehrfach von dreieckigen Oberlichten durchbrochen. Durch die großzügigen Terrassen wähnen sich die Bewohner von Casa Açucena wie in den Regenwald eingetaucht. Die Übergänge von Wohnraum zu Außenfläche sind fließend. Für die Böden der Terrassen wurde teils auf lokales Holz zurückgegriffen.
Dreieckige Form als sich wiederholendes, gestalterisches Motiv
Bei einigen der Terrassen wiederholt sich als Gestaltungselement die dreieckige Form der Oberlichten. Ein großzügig bemessener Pool verschafft den Bewohnern Erfrischung – was angesichts der durchschnittlichen Höchsttemperaturen zwischen 25 und 29 Grad das ganze Jahr hindurch sehr willkommen ist.
Tetro wurde von den Architekten Carlos Maia, Débora Mendes und Igor Macedo gegründet und ist ein weltweit tätiges Architekturbüro mit Sitz in Belo Horizonte. Mit dem von MV Estruturas erbauten Einfamilienhaus Casa Açucena schaffte es das Büro bei den Dezeen Awards in der Kategorie „Landhaus“ auf die Longlist.
Text: Linda Benkö
Fotos: Jomar Bragança