Hybrid-Flachs-Pavillon, Landesgartenschau Wangen, Universität Stuttgart, ICD, ITKE
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Ein Tragwerk aus Holz und Flachs

Die Landesgartenschau im Allgäu zeigt zwei architektonische Weltneuheiten. Einen selbstformenden Ausstellungsturm aus Holz und den Hybrid-Flachs-Pavillon, dessen robotisch produzierte Flachskörper den Holzanteil im Tragwerk um zwei Drittel reduzieren.

Die 30. Baden-Württembergische Landesgartenschau wird seit dem Frühjahr in der Allgäuer Stadt Wangen ausgetragen. Auf dem blütenreichen Großereignis können Besucherinnen und Besucher in diesem Jahr außerdem zwei Architektur-Highlights bewundern, die in ihrer Bauweise absolute Weltneuheiten darstellen. Jahrzehntelange Forschung der Universität Stuttgart flossen in die parametrisch designten Leichtbauwerke, die zeigen, mit wie wenig Materialeinsatz sich stabile, biobasierte Konstruktionen bauen lassen. „Das ist wichtig, denn das Holz ist zwar eine nachwachsende, aber trotzdem zu schonende Ressource, die ihre klimapositive Wirkung nur dann voll entfalten kann, wenn sie in jedem einzelnen Bauprojekt möglichst sparsam und effizient eingesetzt wird“, sagt Professor Achim Menges, Leiter des Instituts für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung (ICD) an der Universität Stuttgart.

Wangen Turm, Leichtbau, Landesgartenschau Wangen, Universität Stuttgart, Achim Menges, Jan Knippers
Der 23 Meter hohe Wangen Turm ist ein Beispiel für ressourcenschonendes, computerbasiertes Bauen.

Der selbstformende Turm

Eine dieser Bau-Innovationen ist der Wangen Turm. Die markante Silhouette des 23 Meter hohen Holzbaus schafft eine neue Landmarke in den sanften Hügeln des Argentals. Was seine ressourcenschonende Bauweise angeht, so reicht die Strahlkraft weit darüber hinaus. Der Universität Stuttgart zufolge handelt es sich um den „weltweit ersten begehbaren Aussichtsturm, der gekrümmte großformatige Bauteile verwendet, die sich durch das Schwinden des Holzes selbsttätig formen“.

Das Holz kann seine klimapositive Wirkung nur dann voll entfalten kann, wenn es in jedem einzelnen Bauprojekt möglichst sparsam und effizient eingesetzt wird.

Prof. Achim Menges, Leiter des Instituts für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung, Universität Stuttgart

Der Holzturm besteht aus 12 tragenden, gebogenen Brettsperrholzsegmenten, die lediglich 13 Zentimeter stark sind. Durch das Schweizer Holzbau-Unternehmen Blumer Lehmann in sechs Bauelementen vorgefertigt, konnte der Turm in nur drei Tagen errichtet werden. Das Außergewöhnliche daran ist das schlanke, flächenaktive Holztragwerk und die Art, wie man zur Krümmung der Holzbauteile kam. 

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Durch genau berechnetes, kontrolliertes Schwinden, gelangte man zur Krümmung der BSP-Bauteile.

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Die schlanken Bauteile wurden von den Schweizer Holzbauexperten Blumer Lehmann vorgefertigt und per Sondertransport nach Wangen geliefert.

Wird das feuchtigkeitsbedingte Verformen des Holzes meist als Nachteil gesehen, so hat man es bei diesem Projekt ganz bewusst eingesetzt und sich das Formverhalten von der Natur abgeschaut. So wie sich Fichtenzapfen beim Trocknen öffnen, so nutzte man dieses Schwinden dafür, die geschwungene Form durch kontrolliertes Verziehen von doppelschichtigen Platten herzustellen. Mehr Form bedeutet in diesem Fall also weniger Material.

Flachs als Baumaterial

Einen kurzen Spaziergang vom Turm entfernt, in der Schleife des renaturierten Flusses Argen, treffen Besucher auf das zweite Architektur-Highlight der Wangener Gartenschau. Der Hybrid-Flachs-Pavillon ist ein runder Pavillon mit gewelltem Dach, dem man die innovative Leichtbauweise von außen gar nicht ansieht. Egal von welcher Seite man den Rundbau betritt, es tut sich ein Raum auf, der von einer außergewöhnlichen Dachkonstruktion geprägt ist. 

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Der Hybrid-Flachs-Pavillon und der Wangen Turm sind die architektonischen Highlights der Landesgartenschau in Baden-Württemberg.

In der lebenden Natur bestehen fast alle tragenden Strukturen aus Fasern. Der Pavillon geht auf mehr als 15 Jahre Forschung an biomimetischen Strukturen in der Architektur zurück.

Prof. Achim Menges, Leiter des Instituts für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung, Universität Stuttgart

Zur primären Wellenform kommen durch die bauchigen Flachskörper zahlreiche weitere Wellen hinzu. Diese Flachskörper wurden robotisch um einen formgebenden Stahlrahmen gewickelt und bestehen aus einem Faserverbundwerkstoff, der in nassem Zustand verarbeitet wird und später aushärtet. Sobald das Bauteil getrocknet war, wurde es vom Rahmen gelöst, und der nächste Flachskörper konnte gewickelt werden. Diese Technik des kernlosen Wickelns für Fasergroßbauteile wurde vom ICD und vom Institut für Tragkonstruktionen und konstruktives Entwerfen (ITKE) der Universität Stuttgart entwickelt. 

Von der Natur abgeschaut

Der Flachs bildet gemeinsam mit den Holzträgern das Dachtragwerk, und auch hier hat man sich viel von der Natur abgeschaut. „Der Pavillon geht auf mehr als 15 Jahre Forschung an biomimetischen Strukturen in der Architektur zurück, die am ICD und ITKE betrieben werden“, erklärt Menges. „In der lebenden Natur bestehen fast alle tragenden Strukturen aus Fasern. Im Laufe der Jahre wurden etliche Wirkprinzipien von natürlichen Systemen gemeinsam mit Biologen der Universitäten Freiburg und Tübingen untersucht und in die Bautechnik überführt. Diese finden sich auch in den Flachsfaserkörpern.“

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Laut Universität Stuttgart handelt es sich bei dem Pavillon um das erste Gebäude weltweit, das auf diese Weise Naturfasern verwendet.
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High-Tech in Planung und Produktion: Die kernlosen Flachsfaserkörper wurden parametrisch design und mit Robotertechnik hergestellt.

Das Ergebnis ist ein hybrides Tragwerk, das mit den nachwachsenden Ressourcen sehr sparsam umgeht. Laut Universität Stuttgart handelt es sich bei dem Pavillon um das erste Gebäude weltweit, das auf diese Weise Naturfasern verwendet. „Die schnell wachsenden Flachsfasern ergänzen als Bestandteil des Hybridtragwerks das langsam wachsende Holz in seiner Tragwirkung. Das reduziert den Holzbedarf gegenüber einer reinen Holzkonstruktion um etwa zwei Drittel“, ergänzt Jan Knippers, Leiter des ITKE der Universität Stuttgart.

Innovation mit großem Potenzial

Das Potenzial, das in dieser Innovation steckt, ist riesig. Eine Anwendung im größeren Maßstab sieht Professor Achim Menges vor allem für „weitspannende Dächer, bei denen die Leistungsfähigkeit des Tragwerks im Vordergrund steht und die Anforderungen an den Brandschutz gering sind“. Was es dafür bräuchte, sei vor allem eine vorwärtsgewandte Bauherrschaft, wie es bei der Landesgartenschau der Fall war. „Wie der Pavillon zeigt, ist die neuartige Holz-Faser-Hybridbauweise bereits heute schon umsetzbar.“

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Die schnell wachsenden Flachsfasern ergänzen das langsam wachsende Holz in seiner Tragwirkung und reduzieren den Holzbedarf um etwa zwei Drittel.

Jan Knippers, Leiter des Instituts für Tragkonstruktionen und konstruktives Entwerfen, Universität Stuttgart

Der Flachs, den man hauptsächlich aus der Textilproduktion für Leinen kennt, hat einen starken örtlichen Bezug. Wangens altes Spinnereigelände, in dem die Pflanzenfasern ehemals verarbeitet wurden, hat man im Zuge der Landesgartenschau saniert. Neben der Herstellung der traditionsreichen Textilfaser wird Flachs heute in vielen Bereichen eingesetzt. So etwa als Dämmstoff, in der Möbelproduktion oder für Innenverkleidungen von Autos. 

Flachs hat das Zeug, zum Plastik des zirkulären Zeitalters zu werden. Nur die Wirtschaft hinkt derzeit noch etwas hinterher, zum Teil sei die Flachsfaserproduktion über Jahre ausverkauft, wie Menges anmerkt. Dass die Naturfaser jetzt auch für tragende Bauteile verwendet wird, zeigt das innovative Potenzial, das in biobasierten Rohstoffen noch schlummert. Für den Baustoff Holz bedeutet das, dass er in Zukunft effizienter und damit auch öfter zum Einsatz kommen kann. Ein weiterer Schritt in Richtung Bauwende.

Text: Gertraud Gerst
Fotos: ICD/ITKE/IntCDC Universität Stuttgart, Roland Halbe

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