Haus Schminke, Löbau
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Der Nudeldampfer von Löbau

Ein deutscher Nudelfabrikant ließ sich 1930 von Architekt Hans Scharoun ein Wohnhaus errichten. Seine einzigartige Architektur macht das Haus Schminke bis heute zu einer Ikone des Neuen Bauens.

Jenseits der Eisenbahnlinie, am nördlichen Rand der Kleinstadt Löbau, liegt die Kirschallee 1. Man würde nicht vermuten, dass sich hier, inmitten von Gewerbebauten und Schrebergärten, ein Haus versteckt, das weltweit zu den wichtigsten Bauwerken der klassischen Moderne zählt. Der erfolgreiche Nudelfabrikant Fritz Schminke ließ hier Anfang der 1930er-Jahre für seine Familie ein Refugium bauen. Entworfen und geplant von Architekt Hans Scharoun, zählte das Haus Schminke zu den mordernsten Bauten seiner Zeit. Ein Anspruch, der bis zum heutigen Tag erhalten blieb.

Haus Schminke, Nord-Ost Ansicht
Seine auskragenden Terrassen und die Relinggeländer brachten dem Haus Schminke den Beinamen „Nudeldampfer“ ein.

Beinahe 90 Jahre sind seit der Fertigstellung des Baus vergangen. Doch der „Nudeldampfer“, wie die Einheimischen das Haus nennen, wirkt bis heute fortschrittlich und am Puls der Zeit. Den Spitznamen verdankt es seinen auskragenden Terrassen und Relinggeländern, die an ein Schiff erinnern. Eine Assoziation, die vom Architekten durchaus beabsichtigt war. Zur Einweihung schrieb er ins Familiengästebuch: „Das neue Lebensschiff liegt unter Dampf“, und skizzierte dazu die oberste Terrasse als Kommandobrücke.

Die Grundprinzipien des Neuen Bauens

Als ein Hauptvertreter der Organischen Architektur strebte Scharoun stets eine Form an, die organisch aus der Funktion heraus entwickelt wird. „Anstelle der von außen gesetzten Gestaltanweisung tritt das Prinzip der Gestaltfindung. Dieses ist eine der wesentlichsten Maximen des ‚Neuen Bauens‘“, schrieb er später in einem Text mit dem Titel „Struktur in Raum und Zeit“ über den Aufbruch in die Moderne.

Haus Schminke, Ostansicht
Die Gestaltung des Hauses richtete Scharoun am „Wohnvorgang“ der Fabrikantenfamilie aus.

Anstelle der von außen gesetzten Gestaltanweisung tritt das Prinzip der Gestaltfindung. Dieses ist eine der wesentlichsten Maximen des ‚Neuen Bauens‘.

Hans Scharoun, Architekt

Diese neuen Grundprinzipien bezogen sich sowohl auf die Wahl der Werkstoffe und den kreativen Prozess, als auch auf „die seelisch und geistig bedingten Forderungen des modernen Menschen“, so Scharoun weiter. „Diese neue Gesetzlichkeit führt zu einer Formgebung, welche eine neue Entfaltung der individuellen Kräfte gestattet, und sie offenbart diese Kräfte im ‚Vorgang‘.“

Der Traum vom modernen Wohnen

Eine neue, richtungsweisende Architektur entstand zu einer Zeit, die von wirtschaftlichen und sozialen Umbrüchen geprägt war. Im Oktober 1929 löste der erste Börsencrash der Geschichte eine Weltwirtschaftskrise aus und stürzte Millionen Menschen in die Armut. Erfolgreiche Unternehmer und Industriebetriebe brachen ein. Doch der Löbauer Nudelproduzent – ein wichtiger Arbeitgeber der ehemals eigenständigen Region Oberlausitz – ließ sich nicht einschüchtern. Er nahm mehrere Kredite auf, um sich und seiner Familie den Traum vom modernen Wohnen zu erfüllen.

Haus Schminke, Nord-Ost Ansicht
Das Haus Schminke zählt weltweit zu den vier wichtigsten Wohnhäusern der Klassischen Moderne.

Ihr neues Haus sollte Arbeiten und Wohnen miteinander in Einklang bringen und Technik und Natur miteinander versöhnen. Die Vorgaben an den Architekten waren knapp und pragmatisch, für die Umsetzung hatte Scharoun alle künstlerische Freiheit. Nach dreijähriger Planungs- und Bauphase konnte die sechsköpfige Familie Schminke schließlich am 31. Mai 1933 in ihr neues Haus einziehen. 

Ein ganzheitlicher Entwurf

Alle Räume im Haus Schminke gestaltete Scharoun nach einem ganzheitlichen Ansatz. Ihm war es wichtig, die Gewohnheiten der Familie kennenzulernen, um anhand ihres „Wohnvorgangs“ ein Haus zu schaffen, das ganz nach ihren Bedürfnissen ausgerichtet ist. 

Er entwarf eigene Leuchten und Einbaumöbel und inszenierte die Räume in einer expressiven Farbgestaltung. Die farbigen Tapeten und Deckenelemente sind heute zwar nicht mehr erhalten, doch die heitere Geste, die Scharoun dem Haus verlieh, ist nach wie vor zu spüren.

Haus Schminke, Aussentreppen
Das neue Haus sollte für die Familie Schminke Arbeiten und Wohnen miteinander in Einklang bringen.

Haus Schminke, Stiegenaufgang
Scharoun gestaltete alle Räume nach einem ganzheitlichen Ansatz.

Die Einbeziehung des Gartens und „Südsonne in allen Räumen“ war den Bauherren von Anfang an ein großes Anliegen. Ein Wunsch, dem Scharoun mit großflächigen Fenstern und einem eigenen Wintergarten nachkam. Um auch die Nordseite mit Tageslicht zu versorgen, setzte er runde Glasbausteine als Deckenelemente ein. Je nach Sonnenstand warfen sie ein fröhliches Tupfenmuster auf Boden oder Möbel.

Villa Kunterbunt der Moderne

Während die Wohn- und Essbereiche im Erdgeschoß großzügig gestaltet sind, wirkt das Obergeschoß fast spartanisch. Die Kinderzimmer sind als bloße Rückzugsräume gedacht und gleichen in ihrer Kompaktheit Kojen auf einem Schiff. 

Haus Schminke, Spielzimmer
Die Eingangshalle mit dem zentral gelegenen Spielzimmer samt Schrank, Tafelwand und Fensterluke in den Garten.

Dass Hans Scharoun ein großer Kinderfreund war, zeigt sich sowohl im Grundriss als auch in vielen liebevollen Details des Hauses. Der große Spielbereich für die Kinder befand sich in zentraler Lage zwischen Eingangs-, Wohnbereich und Küche. Hier gab es Fächer für Spielzeuge, eine Tafelwand und sogar eine eigene Verbindungsluke in den Garten. Rot, orange und blau getönte Bullaugen in den Türen verschafften den Kindern stets Durchblick auf Augenhöhe. 

Die Revolution der Einbauküche

Einen besonderen Stellenwert nahm die Küche ein, die für damalige Verhältnisse revolutionär war. Als eine der ersten Einbauküchen verfügte sie über eingepasste Schränke, durchdachte Aufbewahrungssysteme und eine rationelle Planung anhand des Arbeitsablaufes.

Haus Schminke, Frankfurter Küche
Zur damaligen Zeit revolutionär: Die Einbauküche nach dem Frankfurter Modell von Schütte-Lihotzky.

Bei der Möblierung orientierte sich Scharoun an der von der Wiener Architektin Margarethe Schütte-Lihotzky entworfenen Frankfurter Küche, der Mutter aller Einbauküchen. Er setzte Standardteile ein, wie die typischen Schütten und Gläser, und folgte dem Frankfurter Prinzip des Arbeitsdreiecks. Herd, Spüle und Vorratsschrank standen dabei in einer effektiven Anordnung zueinander.

Eine bewegte Geschichte

Heute blickt der Nudeldampfer von Löbau auf eine bewegte Geschichte zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Schminkes enteignet, und zuerst ging die Nudelfabrik, später auch das Wohnhaus ins Volkseigentum über.

Haus Schminke, Eingang
Der Eingangsbereich mit dem auskragenden Dach und der integrierten Beleuchtung wirkt auch heute noch futuristisch.
übernachten im Haus Schminke
Abgesehen von coronabedingten Schließungen ist das Haus Schminke ganzjährig für Besucher geöffnet. Neben dem Erwachsenenprogramm gibt es auch spezielle Workshops und Führungen für Kinder.

Als besonderes Erlebnis können Besucher auch in dem Architekturjuwel übernachten. Die Benutzung sämtlicher Einbaumöbel und der gut erhaltenen Frankfurter Küche ist dabei inklusive.

Weitere Infos:

Die Nudelfabrik überlebte nach der Wende die Umstellung von der Plan- zur Marktwirtschaft nicht und musste 1992 für immer schließen. Heute ist es das Landhaus der Familie Schminke, das als wichtiges Kulturdenkmal zum wirtschaftlichen Motor der Region geworden ist.

Doch das Haus Schminke in Löbau ist mittlerweile weit über die Grenzen hinaus bekannt. Es zählt weltweit zu den vier wichtigsten Wohnhäusern der klassischen Moderne und steht auf einer Stufe mit der Villa Tugendhat von Ludwig Mies van der Rohe, der Villa Savoye von Le Corbusier und dem Haus Fallingwater von Frank Lloyd Wright.

Haus Schminke, Wintergarten
Den Wintergarten inszenierte Scharoun mit einem Sternenhimmel als Beleuchtungskonzept.

Eine Anerkennung, die sich auch mit Scharouns persönlicher Vorliebe deckt. Rückblickend bezeichnete der Architekt dieses Projekt als „das Haus, das mir am liebsten war“.

Text: Gertraud Gerst
Fotos: Stiftung Haus Schminke/Ralf Ganter

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