Die Fassade als grünes Regal
Mit dem Projekt Green Villa im Süden der Niederlande denkt MVRDV nicht nur die Fassadenbegrünung neu. Das sogenannte fassadenlose Gebäude löst die markante Grenze zwischen Innen- und Außenraum auf.
In der Stadt gibt es zu wenig Grün. Darüber sind sich Architekten und Stadtplaner einig. Während früher der Hauptfokus im Städtebau auf der Errichtung von Park- und Grünanlagen lag, sind es heute ganze Häuser und Straßenblöcke, die bepflanzt werden. „Die Idee der Neunzigerjahre von Parks als Stadtoasen ist zu wenig weit gedacht. Wir brauchen eine radikale Begrünungsstrategie“, erklärt Winy Maas, Gründungspartner des niederländischen Architekturbüros MVRDV. Die Green Villa, ein Büro- und Wohngebäude für den niederländischen Ort Sint-Michielsgestel, ist ein Modell, das urbane Gebiete in Naturlandschaften verwandeln soll.
Die Idee der Neunzigerjahre von Parks als Stadtoasen ist zu wenig weit gedacht. Wir brauchen eine radikale Begrünungsstrategie.
Winy Maas, Gründungspartner von MVRDV
Das vierstöckige Eckgebäude fügt sich mit seinem Maßstab und dem Mansardendach in die bestehende Häuserzeile ein. In seiner Fassade weicht es allerdings deutlich von dieser ab. Ein rasterförmiges Regalsystem mit variierenden Einheiten bildet die komplette Außenhülle der Green Villa. Im Regal stehen unterschiedlich große Kübel, die mit Bäumen und Sträuchern bepflanzt sind. Dieser Forstgarten fügt sich in die idyllische Auenlandschaft am nahegelegenen Fluss Dommel ein, wie es im Entwurfskonzept heißt.
Die Auflösung der Fassade
Initiiert und mitgestaltet wurde das Projekt vom ansässigen Architekturbüro Van Boven Architecten. Mit ihrer Wohn- und Bürohausentwicklung wollten sie eine Landmark für den Ort schaffen, die ein soziales und progressives Umweltbewusstsein transportiert. Für das Büro MVRDV, das für das architektonische Konzept verantwortlich zeichnet, ist das Projekt Teil seiner Forschung zu „fassadenlosen Gebäuden“.
Dieses Designprinzip verabschiedet sich von der klassischen Fassade, wie wir sie kennen. Während sie bislang eine klare Trennung zwischen Innen und Außen vollzog, wird diese Grenze nun aufgeweicht. Das Gebäude der Zukunft wirft seine Außenhaut ab und wird diffusionsoffen. Wo hört der Außenraum auf, wo fängt der Innenraum an?
Mit der Eröffnung der neuen IKEA-Filiale am Wiener Westbahnhof zeigt sich auch der Möbelkonzern in einem fassadenlosen Erscheinungsbild, das die Architektur gerade weltweit erobert. Vertreter dieser neuen Bauart setzen sich für ein offenes Stadtbild ein, in dem auch die Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Raum neu verhandelt werden. Die Fassade wird damit zu einem eigenständigen Raum, einer Art Pufferzone zwischen Individuum und Kollektiv.
Fassadenbegrünung verbessert Stadtklima
Dass die Begrünung der Fassade tatsächlich eine Verbesserungen des Stadtklimas mit sich bringt, ist seit einer Simulation des Karlsruher Instituts für Technologie im Jahr 2012 wissenschaftlich bewiesen. Demnach erzielt die vertikale Bepflanzung in der Stadt bis zu 30 Prozent bessere klimatische Bedingungen. Und abgesehen von den messbaren Faktoren zählt auch die gefühlte Verbesserung der Lebensqualität, die Bewohner bei den zusätzlichen Grünflächen in ihrer Umgebung empfinden.
Die Green Villa wird laut Architekten eine ganzjährig grüne Fassade bieten. In den weißen Töpfen sollen künftig Forsythien, Jasmin, Kiefern und Birken Platz finden. Dabei entspricht die Art und Dichtheit der Bepflanzung der den jeweiligen Räumen geschuldete Privatsphäre. Das grüne Regal, das auch als eine Art Pflanzen-Lehrgarten dient, verfügt über ein sensorgesteuertes Bewässerungssystem, das mit einem Regenwassertank verbunden ist. „Dieses Design ist eine Weiterführung unserer Forschung an ‚fassadenlosen‘ Gebäuden und radikaler Begrünung“, so Maas.
Die radikalen Begrüner
Für die Architekten von MVRDV ist nachhaltige Architektur nicht nur eine technologische Herausforderung. Laut ihren Architektur-Manifesten soll die Stadt der Zukunft mit der Naturlandschaft verwachsen.
Wir sollten auch Dächer und Hochhausfassaden begrünen. Pflanzen und Bäume können dabei helfen, CO2-Emissionen auszugleichen, die Städte zu kühlen und Biodiversität zu fördern.
Winy Maas, Gründungspartner von MVRDV
„Wie demnächst in einem Buch von The Why Factory mit dem gleichnamigen Titel nachzulesen ist, sollten wir auch Dächer und Hochhausfassaden begrünen. Pflanzen und Bäume können dabei helfen, CO₂-Emissionen auszugleichen, die Städte zu kühlen und Biodiversität zu fördern“, ist Maas überzeugt.
Ob es die Green Villa demnächst auch im Skyskraper-Format geben wird, hat der Firmengründer nicht verraten. Sicher hingegen ist der Bau des neuen Wolkenkratzers The Sax am Rotterdamer Wilhelminapier. Der Entwurf spielt in der Vertikalen mit der steigenden Auflösung der Fassade. Ein Motiv, das uns in der Architektur noch länger begleiten wird.
Text: Gertraud Gerst
Visualisierungen: MVRDV