Ein Nationalheld als Gebäude
Heldenstatuen gibt’s überall. In Albaniens Hauptstadt geht man weiter: Nationalheld Skanderbeg wird dort gar zum monumentalen Hochhaus. Designt vom Büro MVRDV entsteht „Tirana’s Rock“: Ein Großprojekt in Büsten-Form, das den legendären Fürsten darstellt.
Kriegsherr, Fürst und Wegbereiter der Entstehung des Nationalstaats Albanien: Gjergj Kastrioti (1405-1468), bekannt unter dem Namen Skanderbeg, ist eine zentrale Figur in der Geschichte des Landes. Nicht umsonst dominiert seine elf Meter hohe Statue Tiranas Hauptplatz. Und der ist auch nach ihm benannt: Sheshi Skënderbej (Skanderbeg Platz). Jetzt wird dem Nationalhelden ebendort ein weiteres, monumentales Denkmal gesetzt: Als 85 Meter hohes, modernes Mixed-Use-Gebäude in Büsten-Form wird „Tirana’s Rock“ sein Konterfei weithin sichtbar aus dem Zentrum ragen lassen.
Bevorzugt ungewöhnlich
Entworfen wurde das 35.000 Quadratmeter Fläche umfassende Großprojekt vom Erfolgsbüro MVRDV. Dass die niederländischen Architekten ein Faible für spektakuläres Design haben, ist bekannt. Immerhin stammen auch Aufsehen erregende Projekte wie das Hochhaus mit dem „O“ in Mannheim oder das, einer Spiegel-Schüssel gleichende Kunst-Depot des Boijmans van Beuningen Museums in Rotterdam aus ihrer Feder. Mit dem Skanderbeg Gebäude setzt das Team von MVRDV seiner Kreativität in Sachen Formgebung nun allerdings quasi die Krone auf.
„Tirana’s Rock“ wird auf allen Ebenen von geschwungenen Balkonen umhüllt, die ein plastisches Abbild von Skanderbegs Kopf ergeben. Diese Freiflächen und Vorsprünge bilden die Gesichtszüge des Nationalhelden – von Nase und Ohren bis zum Bart. Zugleich schaffen sie Vorteile für die künftigen Nutzer des Großprojekts in Büsten-Form. Denn hinter der dramatischen Fassade sorgt das Konzept für durchdachte, funktionale Wohnungen. Und zwar in einer der begehrtesten Lagen von Tirana.
Städte auf der ganzen Welt werden einander immer ähnlicher. Ich ermutige sie immer, sich dem zu widersetzen, ihren individuellen Charakter zu finden und ihn zu betonen.
Winy Maas, MVRDV-Gründungspartner
Die Balkone spielen auch für die Innenraumgestaltung eine wichtige Rolle. Sie ermöglichen den Architekten eine rationellere Raumaufteilung. Obendrein bieten sie den künftigen Bewohnern Lebensqualität durch schattige Außenbereiche. Von außen betrachtet, ist der Effekt der Büsten-Form eher subtil: Je nach Blickwinkel werden Betrachter vermutlich nicht sofort erkennen, dass das Bauwerk den Kopf eines Menschen darstellt.
Der „gebaute“ Skanderbeg
Allerdings schreit „Tirana’s Rock“ mit seiner ungewöhnlichen Kontur geradezu nach Aufmerksamkeit. Und auf den zweiten, genaueren Blick wird klar, was Sache ist. Auch Touristen, denen Albaniens Geschichte nicht gänzlich fremd ist, ahnen dann wohl bald, dass es sich um den „Gebäude gewordenen“ Skanderbeg handelt.
MVRDVs für die Investoren ANA sh.p.k. und VI&VI sh.p.k. designter Entwurf entsteht an der nordöstlichen Ecke des Skanderbeg Platzes. Und er hebt dessen Präsenz auf eine ganz neue Ebene. Auf Straßenniveau füllt „Tirana’s Rock“ das unregelmäßig geformte Grundstück bis zum äußersten Rand aus. Der Kopf des Helden ist wie eine Marmorbüste aus diesem maximal zulässigen Volumen „herausgemeißelt“: Seine Schultern sind auf die breiteste Stelle des Platzes ausgerichtet, während sein Antlitz nach rechts gewendet ist. Damit „überblickt“ der überdimensionale Skanderbeg künftig den Platz, der seinen Namen trägt.
Mixed-Use-Riese „Tirana’s Rock“
Im Inneren von „Tirana’s Rock“ ist eine Ebene Gewerbeflächen vorbehalten. Auf vier Stockwerken werden Büroräume und andere Funktionen die tiefen Grundrisse am unteren Ende der „Büste“ füllen. Darüber befinden sich 20 Etagen mit Wohnungen. Die Architekten haben dabei jedem einzelnen Grundriss besondere Sorgfalt gewidmet, um trotz der unregelmäßigen Form des Gebäudes bestmöglichen Wohnkomfort zu gewährleisten.
Apropos Wohnqualität und damit auch zurück zu den formgebenden Balkonen: Die Freiflächen der Wohnungen sind durch eingebaute Pflanzgefäße voneinander getrennt. Dies verspricht nicht nur Privatsphäre. Das Grün wird nämlich so gesetzt, dass es sich bis ins Skanderbeg Gebäude hinein ausbreiten kann. Dafür wurden eigens und ausschließlich einheimische Pflanzen ausgewählt.
Klima im Blick
Passend zum Credo der MVRDV Architekten, hat „Tirana’s Rock“ auch sonst einiges zu bieten, das den Komplex nachhaltiger gestaltet. Dass etwa die Balkone weit auskragen, entspricht Albaniens klimatischen Verhältnissen. Denn dadurch wird das Skanderbeg Gebäude vor übermäßiger Sonneneinstrahlung geschützt. Die Grundrisse ermöglichen natürliche Querlüftung. Und Systeme zur Regenwassersammlung sowie zur Wärmerückgewinnung minimieren den Wasser- und Energiebedarf.
Die Glasbalustraden der Freiflächen sind mit einem Farbverlauf versehen, der von milchweißem zu klarem Finish übergeht. Ein Kunstgriff, der dem Neubau ein ätherisches, marmorähnliches Aussehen verleiht. Besonders eindrucksvoll wird „Tirana’s Rock“ zudem nächtens wirken: In die Unterseite der Balkone eingebaute Lichtstreifen heben dann Skanderbegs Kopfform hervor und machen den Komplex zu einem leuchtenden Wahrzeichen der Stadt.
Spannende Stadtentwicklung
Das ungewöhnliche Großprojekt in Büsten-Form soll sich nahtlos in seine Umgebung einfügen. In eine Stadt, die als Teil ihrer postkommunistischen Renaissance eine Tradition der Vermischung von Kunst und Architektur entwickelt hat. Dass alte Villen dafür weichen mussten, sorgte für einige Kritik. Doch große, ungewöhnliche Bauvorhaben sind geradezu typisch für Tiranas aktuellen Stadterneuerungskurs. Dies zeigt sich auch an der, ebenfalls von MVRDV konzipierten Erneuerung der „Pyramide“ oder am Projekt „MET Tirana Building“.
Für MVRDV Gründungspartner Winy Maas ist „Tirana’s Rock“ ein Projekt, das es ihm erlaubt, einer unliebsamen Entwicklung etwas entgegenzusetzen: „Städte auf der ganzen Welt werden einander immer ähnlicher. Ich ermutige sie immer, sich dem zu widersetzen, ihren individuellen Charakter zu finden und ihn zu betonen“.
Identität statt Einheits-Look
Das Skanderbeg-Gebäude sei eine Gelegenheit, genau das zu tun, erläutert der international gefragte Architekt: „Es verleiht den bestehenden Elementen der albanischen Architektur eine neue Bedeutung. Während Albanien seine Verhandlungen über den EU-Beitritt beginnt, sind Bauwerke wie dieses Teil des europäischen Projekts. Es unterstreicht Geschichte, Charakter und Präsenz Albaniens in einem vereinten Europa mit vielen Staaten“.
Einzigartigkeit im Kopf
Die Bauarbeiten an „Tirana’s Rock“ sind bereits angelaufen. Und beeindruckend wird das Hochhaus am Skanderbeg Platz ganz bestimmt. Nicht allein, weil das monumentale Denkmal des albanischen Nationalhelden zu den größten Gebäuden der Welt zählt, die gleichzeitig eine figurative Skulptur darstellen. Sondern vor allem, weil ein Mixed-Use-Komplex in Form eines menschlichen Kopfes rund um den Globus seinesgleichen sucht.
Text: Elisabeth Schneyder
Bilder: MVRDV